Endlich
ist postum das letzte umfassendere theoretische Werk des 1995
verstorbenen marxistischen Wirtschaftswissenschaftlers Ernest
Mandel unter dem Titel Macht und Geld. Eine marxistische Theorie
der Bürokratie* auf deutsch erschienen.
Gegenüber
der Originalausgabe (Power and Money, Verso, London) ist die
deutsche Fassung vom Autor noch durchgesehen, korrigiert und zum
Teil erheblich erweitert worden. Die Titelgestaltung
("Macht und Geld" vor dem Hintergrund eines
Wolkenkratzers der Deutschen Bank) ist unglücklich, denn sie lässt
eher an ein Buch über die Machenschaften des Großkapitals
denken. Es geht aber um die Bürokratie in der Arbeiterbewegung,
in Gewerkschaften, Parteien sowie in Staaten, in denen die Macht
des Kapitals gebrochen wurde.
Ein
umfangreiches Kapitel befasst sich mit der bürgerlichen Staatsbürokratie,
einschließlich einer kritischen Auseinandersetzung mit den
einschlägigen Auffassungen von Max Weber und Joseph Schumpeter.
Doch in der Hauptsache geht es um die Entstehungsbedingungen,
die Rolle und die Bedingungen zur Überwindung der Bürokratie
in der Arbeiterbewegung, um ein Problem also, das auch nach dem
Zusammenbruch der poststalinistischen Herrschaftssysteme in der
ehemaligen UdSSR und in Osteuropa aktuell geblieben ist — und
nicht "nur" wegen der VR China und Nordkorea.
Für
Ernest Mandel ist die Schaffung von Apparaten mit hauptamtlichen
Funktionären für Arbeiterorganisationen, sobald sie die
Schwelle von kleinen Gruppen überschreiten, unvermeidlich. Die
zahlreichen Aufgaben, vor denen Massenorganisationen stehen,
lassen sich nicht in Feierabendarbeit bewältigen — vom
Kassieren der Beiträge über die Organisierung der
Meinungsbildung bis hin zur Bildungsarbeit und zu Herstellung
und Vertrieb einer eigenen Presse und Literatur. Doch entsteht
dadurch von Anfang an die Gefahr der Verselbständigung dieser
Apparate gegenüber ihrer eigenen Basis. Für die bezahlten
Funktionäre kann die Organisation zum Selbstzweck werden.
Organisationsfetischismus
Solche Erscheinungen gibt es bereits in der heroischen Zeit, in
der verantwortliche Führer oft mit einem Bein im Gefängnis
stehen, und manchmal mit allen beiden. Organisationsfetischismus
kann sich in die Köpfe der Berufsfunktionäre schleichen, womit
der eigentliche Inhalt, der soziale und emanzipatorische Zweck
der Organisation, relativiert werden und sogar in den
Hintergrund treten kann.
Auch
wenn noch keine erheblichen materiellen Privilegien bestehen,
hebt sich der Status der Funktionäre gegenüber dem der
"normalen" Mitglieder rasch ab. Die Hauptamtlichen
haben eine relativ gesicherte Existenz, sie üben eine — im
Vergleich mit der Fabrikarbeit — interessante Tätigkeit aus,
sie verfügen über ein gewisses Prestige. Ein Teil von ihnen
verkehrt — notgedrungen, weil ja verhandelt werden muss —
regelmäßig mit der Gegenseite, mit "Größen" von
Kapital und Staat. Auf die Dauer färbt das ab.
Was
den Umfang der materiellen Privilegien betrifft, so muss auch
bedacht werden, dass das eine relative Größe ist. Je ärmer
die Basis, desto mehr markieren schon bescheidene, ganz sachlich
durch die Arbeit begründete Ausstattungen einen deutlichen
Unterschied. Doch von den ersten Anzeichen der Bürokratisierung
bis zur Verfestigung einer Bürokratie mit klar bestimmtem und
das Verhalten der Organisation bestimmendem Eigeninteresse ist
ein langer Weg.
Wenn
sich eine solche bürokratische Schicht herauskristallisiert
hat, dann wird sie zum systematischen Hindernis für die Aktivität
der einfachen Mitglieder. Sie versucht, die Möglichkeiten der
Einflussnahme der Mitglieder zurückzudrängen. Mangel an
demokratischem Leben in der Organisation ist nicht nur das
typische Kennzeichen vernagelter Sekten, sondern auch bürokratisch
und darum autoritär geführter Massenorganisationen.
Die
bürokratische Schicht fürchtet breite Massenaktionen, fürchtet
deren Spontaneität und Unberechenbarkeit. Solche Aktionen
bergen Risiken; es könnte ja schlimmstenfalls — horribile
dictu! — die Organisation samt ihrer Verwaltungsherrlichkeit
Schaden nehmen. Außerdem könnten die Menschen, einmal in
Bewegung, auch die Autorität ihrer bisherigen Führung in Frage
stellen, und das wäre ja ein Graus.
Die
Geschichte der Sozialdemokratie und der von ihr dominierten
Gewerkschaftsbewegung ist das klassische Beispiel für die
Verselbständigung einer bürokratischen Schicht und für ihre
Wendung gegen die ursprünglichen emanzipatorischen Ziele. Die
sozialdemokratische Bürokratie hatte sich schon unter dem
Kaiser so sehr in das bestehende System integriert, dass sie im
Kriegsfalle (wie erstmals im August 1914) lieber die
"eigene" Bourgeoisie unterstützt, als die
internationale Solidarität der Arbeiterinnen und Arbeiter zu
organisieren.
Die
Revolution 1918/19 lenkte sie bewusst in solche Bahnen, dass die
kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse ebenso bestehen
blieben wie der wilhelminische Staatsapparat. Zur Unterdrückung
der "Spartakisten" und der revoltierenden
Arbeiterinnen und Arbeiter stützte sie sich auf die präfaschistischen
Freikorps und stärkte so lieber die eigenen späteren Totengräber,
als eine Eroberung der Macht durch die Arbeiter- und Soldatenräte
zu fördern.
Mehr
noch als in der Weimarer Republik ist die sozialdemokratische Bürokratie
heute über zahllose Fäden mit den Institutionen der bürgerlich-demokratischen
Republik verbunden und damit existenziell an sie gebunden. Sie
wird wieder mit ihr gemeinsam untergehen. Die Bürokratie ist
nicht nur ein Hindernis gemessen an den großen Zielen der
grundlegenden gesellschaftlichen Umgestaltung, für die die
Arbeiterbewegung klassisch immer stand. Sie behindert auch
massiv die Vertretung der elementaren Tagesinteressen der abhängig
Beschäftigten und Besitzlosen.
Die
sozialdemokratische Gewerkschaftsbürokratie akzeptiert so viele
von der Gegenseite behauptete "Sachzwänge" (die alle
auf jene Konkurrenz hinauslaufen, zu deren Überwindung die
Gewerkschaften gegründet wurden), dass das Verfechten der
Interessen der Basis zur Ausnahme geworden ist. Um diese Basis
und damit auch die materielle "Unterlage" ihrer
Stellung nicht zu verlieren, muss die Gewerkschaftsbürokratie
allerdings zumindest den Eindruck erwecken, wie eingeschränkt
auch immer, für die Interessen der Beschäftigten einzustehen.
Die
Bürokratisierung nach dem Sturz der Kapitalherrschaft, nach der
Eroberung der politischen Macht schafft Probleme noch bedrängenderer
Art. Nach der Oktoberrevolution gab es zunächst nur wenige
bezahlte Parteifunktionäre, und das "Parteimaximum"
begrenzte ihr Einkommen auf das eines qualifizierten Arbeiters.
Die ersten Privilegien hingen noch eng mit den Funktionen
zusammen. Unter Stalin explodierten die bürokratischen
Privilegien. Wer das Zehn- oder Zwanzigfache eines Arbeiters,
einer Arbeiterin verdient — gemessen am jeweiligen Zugang zu
Konsumgütern — verfolgt systematisch die eigenen Interessen.
Das
System hierarchisch abgestufter Privilegien (wobei der selektive
Zugang zu Informationen ebenso abgestuft wird) mit einer
vertikalen Mobilität, die auf Liebedienerei und geistiger wie
materieller Korruption fußt, sichert zusammen mit eiserner
Repression die Herrschaft der Bürokratie ab. Die vollständige
politische Enteignung der offiziell "herrschenden"
Klasse, die Vernichtung aller Ansätze sozialistischer
Demokratie führte zu einem grotesken Zerrbild der ursprünglich
angestrebten gesellschaftlichen Befreiung. Die stalinistische Bürokratie
versperrte den Weg zur sozialistischen Umgestaltung der Welt auf
ihre Weise und diskreditierte mit ihren Verbrechen die
sozialistische Idee nachhaltig.
Hintergrund
für die extreme Bürokratisierung war, dass die sozialistische
Revolution in einem rückständigen und isolierten Land mit
mehrheitlich bäuerlicher Bevölkerung siegte. Schon Marx und
Engels bemerkten, dass die "Verallgemeinerung des
Mangels" nur die "alte Scheiße" wiederherstellen
könnte. Trotzki erläuterte dies später mit dem Bild der
Schlange vor dem Geschäft, die so lang wird, dass ein Polizist
für Ordnung sorgen muss.
Sobald
die stalinistische Bürokratie unter der Losung des
"Aufbaus des Sozialismus in einem Lande" die
Perspektive der sozialistischen Weltrevolution hintanstellte,
machte sie aus der Not eine Tugend, was damit endete, dass sie
eine Gesellschaft für "sozialistisch" erklärte, in
der schreiende Ungleichheit herrschte, in der der Staat, weit
davon entfernt Tendenzen zum Absterben zu zeigen, mächtiger und
erdrückender wurde denn je.
Mandel
zeigt, wie sehr dieser auch den bürgerlichen Ideologen so
angenehme Missbrauch des Begriffs "Sozialismus" nicht
nur dem Denken von Marx und Engels widerspricht, sondern auch
dem der Bolschewiki (einschließlich Stalins, bis die Bürokratie
ihn endgültig zu ihrem "Führer" und obersten
Schiedsrichter gemacht hatte).
Ernest
Mandel hält die Auffassung jener für widerlegt, die meinen, es
habe sich um einen Staatskapitalismus gehandelt. Wieso, fragt
er, erweist sich die Wiedereinführung des Kapitalismus (bzw.
des "Privatkapitalimus") als so tiefe und schwierige
Umwälzung, wenn es sich nur um den Übergang von einer Sorte
Kapitalismus zum anderen handelt? In der Sowjetunion und den
vergleichbaren Ländern gab es in der Tat Waren und Geld, wirkte
tatsächlich das Wertgesetz. Aber es herrschte nicht vor wie in
den kapitalistischen Ökonomien, denn die wesentlichen
Produktionsmittel und die meisten Arbeitskräfte waren nicht
Waren, die auf Märkten gehandelt wurden.
Warum
aber betrachtete Ernest Mandel die herrschenden Bürokratien
dann nicht einfach als eine neue Art "herrschender
Klasse"? Sein wesentliches Argument ist, dass sich die Bürokratie
hierfür vollständig vom Wertgesetz hätte emanzipieren müssen.
Gerade dies aber sei in der bestehenden vom Kapitalismus
dominierten Welt nicht möglich gewesen. So blieb den Bürokraten,
wenn ihre Selbstbehauptung als Bürokraten nicht mehr möglich
war, nur der Weg, sich in die bürgerliche Klasse zu
integrieren, selbst Kapitalisten zu werden — oder
gesellschaftlich unterzugehen.
Typisch
für die bürokratisierten nachkapitalistischen Länder ist laut
Mandel eine hybride Mischung aus Staats- und Warenfetischismus.
Einerseits die Illusion der "Kommandowirtschaft" —
"die Kader entscheiden alles", sagte Stalin.
Andererseits die Illusion, das Wertgesetz erzwinge "als
Naturgesetz" (ebenfalls Stalin) die großen
wirtschaftlichen Entscheidungen. In Wirklichkeit legt der Plan
die Prioritäten fest, und sowohl die Wirkung des Wertgesetzes
(vermittelt über den Außenhandel und die marktmäßig
ermittelten Preise der Konsumgüter [oft andere als die
administrativ festgelegten] und der zwischen staatlichem Sektor
und bäuerlichen Genossenschaften ausgetauschten Güter) wie
auch das Desinteresse auf verschiedensten Ebenen machen den Plan
zuschanden, bewirken gravierende Disproportionen und das sprichwörtliche
bürokratische Chaos.
Gegen den Substitutionismus
Die Probleme beginnen auch für Mandel natürlich nicht mit
Stalin. Das Verbot der nichtbolschewistischen Sowjetparteien und
vor allem das zugleich mit Einführung der Neuen Ökonomischen
Politik (NÖP), die ihrerseits dringend erforderlich war,
ausgesprochene Fraktionsverbot innerhalb der bolschewistischen
Partei bezeichnet er als "schwere Fehler", die das spätere
Aufkommen des Stalinismus begünstigten, die Jahre 1920/21 als
die "dunklen Jahre" Lenins und Trotzkis. Die Partei,
bzw. deren Mehrheitsmeinung, sollte "zeitweilig" die
Herrschaft der Klasse ersetzen.
Mag
es auch verwundern, ähnliche dunkle Momente sieht Mandel auch
bei Rosa Luxemburg (die in der polnischen Partei nicht gerade
zimperlich mit Opponenten umging) und Antonio Gramsci (der in
seinen Gefängnisheften meinte, "im Stellungskrieg" müsse
zu "politischen und administrativen Kontrollen jeglicher
Art" und zu einer "unerhörten Konzentration der
Hegemonie" (!) gegriffen werden). Es sind
"substitutionistische" Ideen, die Versuchungen,
"Stellvertreterpolitik" zu treiben und theoretisch zu
rechtfertigen, die besonders dann groß sind, wenn
Massenbewegungen zurückgehen oder sich zersetzen.
Mandel
verweist darauf, dass sozialdemokratische Theoretiker erst recht
immer wieder auf die Idee verfielen, in "schwierigen
Zeiten" müsse man die unten zu ihrem Glück zwingen, ihnen
notfalls Streiks und Protest verbieten usw.
Diesem
"Substitutionismus" und seiner Widerlegung widmet
Mandel ein ganzes Kapitel. Diejenigen, deren Politik und Gebaren
auf die Basis entmutigend wirkt, berufen sich besonders gern auf
die "Passivität" oder "Rückständigkeit"
der Basis. Wir kennen das gut von gewissen sozialdemokratischen
Gewerkschaftsverantwortlichen.
Das
einzige nachhaltig wirkende Gegengift ist Mobilisierung,
Selbstaktivität und Selbstorganisation. Wenn eine große Zahl
von Menschen aktiv wird, anfängt, sich für Details zu
interessieren, mit eigenem Kopf urteilt und in einen täglichen
lebendigen Ideenaustausch mit anderen tritt, dann fangen schwere
Zeiten an für die Herren "Stellvertreter".
Obwohl
Mandel die objektiven Bedingungen für die Bürokratisierungsprozesse
betont, ist er gegen Fatalismus. In der Geschichte jeder
Organisation, jeder Bewegung, jedes Landes gibt es Wendepunkte,
bei denen objektiv verschiedene Wege eingeschlagen werden können.
Eine bewusst antibürokratisch orientierte sozialistische
Politik hätte in der Vergangenheit und kann in der Zukunft die
allgemeine Emanzipation wesentlich weiterbringen, als es bislang
faktisch der Fall war.
Bedingungen der befreiten Gesellschaft
Im Schlusskapitel untersucht Mandel die Bedingungen für eine
selbstverwaltete Gesellschaft, in der sowohl die bürokratischen
Apparate einschließlich des Staates selbst, als auch die
Klassen und die Waren- und Geldbeziehungen allmählich absterben
können. Diese Vision ist letztlich nur weltweit verwirklichbar.
Eine
wichtige Voraussetzung ist hierfür ein "Überfluss"
an Gebrauchswerten, der nicht mit kapitalistischer oder bürokratischer
Verschwendung zu verwechseln ist. Es geht um die Befriedigung
der laufenden materiellen und kulturellen Bedürfnisse, die in
einer sich befreienden Gesellschaft nicht immer weiter wachsen
werden. Denn ab einem bestimmten Niveau der Sättigung mit
solchen Gütern und Dienstleistungen verlagert sich das
Bestreben der Menschen hin zu kreativer Selbstentfaltung.
Eine
weitere ganz entscheidende Voraussetzung ist die radikale Verkürzung
der Arbeitszeit für alle, so dass nicht nur die Lebensqualität
steigt, sondern auch alle zur Verwaltung und zur Entscheidung über
die öffentlichen Angelegenheiten hinzugezogen werden können.
Mandel ist auch der Meinung, dass eine ökologisch
verantwortliche Produktion mit diesen Zielen vereinbar ist, da
allein die Streichung der unnützen und nur zerstörerischen
Produktionen (angefangen bei der Rüstungsproduktion) weltweit
enorme Ressourcen freisetzen würden.
Angesichts
der Tatsache, dass Mandels von Argumenten und verarbeitetem
Wissen überbordendes Buch nicht zuletzt darum bemüht ist, die
Position seiner eigenen Organisation — der IV.Internationale
— ins rechte Licht zu rücken, sei hier auf eine wichtige
selbstkritische Bemerkung in der Einleitung verwiesen: "Wir
müssen zugeben, dass revolutionäre Marxisten die verheerenden
Langzeitfolgen des Stalinismus und der bürokratischen Diktatur
auf den durchschnittlichen Bewusstseinsstand ernsthaft unterschätzt
haben."
Tatsächlich
erwartete Ernest Mandel bis 1989/90 deutlich mehr Impulse in
Richtung sozialistische Demokratie von den Massenbewegungen, die
die poststalinistischen Bürokratien zu Fall brachten. Im Buch
nun behauptet Mandel, wie er sagt, zumindest einen
"moderaten Optimismus", gegründet auf die neuen
Impulse der neuen Arbeiterbewegungen wie in Brasilien, gegründet
auf neue solidarische soziale Bewegungen, vor allem wenn sie
sich gegen den wildgewordenen "neoliberalen"
Kapitalismus international formieren, gegründet auf Gedächtnis
und Lernfähigkeit.
*Ernest Mandel: Macht und Geld.
Eine marxistische Theorie der Bürokratie, Köln (Neuer ISP
Verlag) 2000, 318 Seiten, 42 DM, ISBN 3-929008-73-4.
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