Der Stalinismus als Sieg der
politischen Konterrevolution in Rußland war im wesentlichen das
Ergebnis einer Teilniederlage der Weltrevolution in der Zeit von
1918 bis 1923. Diese Niederlage lastete als schwere Bürde auf
den großen Klassenkämpfen von 1923 bis 1940 und beeinflußte
deren Ausgang. In großen.Teilen der Welt war die Bilanz dieser
Kämpfe vernichtend. Der Faschismus oder Militärdiktaturen
gleichen Typs wurden fast in der ganzen nördlichen Hemisphäre
errichtet, mit der entscheidenden Ausnahme der USA, Kanadas, Großbritanniens
und Mexikos. Die Ermordung Trotzkis im August 1940 in Mexiko
durch einen Agenten der GPU war symptomatischer Ausdruck einer
reaktionären Entwicklung globalen Ausmaßes, die in der
Barbarei des Zweiten Weltkriegs ihren Höhepunkt fand.
Der Faschismus als Sieg der
politischen Konterrevolution in den imperialistischen Ländern
war für das zeitgenössische gesellschaftspolitische Denken -
einschließlich des marxistischen - ebenso schwierig in eine
Konzeption einzuordnen wie der Stalinismus. Und wieder einmal
hat Trotzki seine Zeitgenossen bei der Erklärung dieses Phänomens
um Haupteslänge überragt. Kein anderer Denker hat die Natur
des Faschismus so klar erfaßt und die Gefahr, die er für die
Arbeiterklasse und für die menschliche Zivilisation darstellte,
so klar erkannt. Niemand außer ihm hat die Arbeiterklasse
beizeiten so klar gewarnt und darauf hingewiesen, daß es
notwendig sei, sich gegen diese Gefahr zu stemmen, wobei er
zugleich die für diesen Widerstand gebotene Taktik vorschlug.
Man kann ohne Übertreibung sagen, daß es vielleicht mit
Ausnahme von Marx' Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis
1850 [1850] und Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte
[1852] keine marxistische Analyse zeitgenössischer politischer
Fragen gibt, die hinsichtlich Tiefe und Klarheit mit Trotzkis
Schriften über das Deutschland von 1929 bis 1933 verglichen
werden könnte.
Bei seinem Herangehen an das Phänomen
des Faschismus kam Trotzki einmal mehr sein tiefes Verständnis
des Gesetzes der ungleichen und kombinierten Entwicklung zu
Hilfe, die auf die Klassengesellschaft angewandte Synthese der
materialistischen Dialektik. Wie einige andere marxistische
Autoren (z.B. Ernst Bloch und Kurt Tucholsky) hat Trotzki die
partielle Ungleichläufigkeit der sozioökonomischen und
ideologischen Formen verstanden, d.h. die Tatsache, daß sehr
starke Ideen, Gefühle und irrationale Vorstellungen
vorkapitalistischer Epochen in großen Teilen der bürgerlichen
Gesellschaft fortbestehen (vor allem in der von der Verarmung
bedrohten Mittelklasse, aber auch zum Teil in den Reihen des
Bürgertums, der deklassierten Intellektuellen und sogar
innerhalb gewisser Schichten der Arbeiterklasse). Besser als
irgendein anderer hat er folgende gesellschaftliche und
politische Schlußfolgerungen gezogen: Unter den Bedingungen des
wachsenden Drucks der zunehmend unüberwindlichen sozioökonomischen
Klassengegensätze könnten sich bedeutende Teile der
Mittelklasse und andere oben erwähnte soziale Schichten -
menschlicher Treibsand, wie Trotzki sie treffend bezeichnete -
zu einer mächtigen Massenbewegung verschmelzen, die,
hypnotisiert von einem charismatischen Führer und von Teilen
der Bourgeoisie und deren Staatsapparat bewaffnet, als Rammbock
dienen könnte, um die Arbeiterbewegung durch Einschüchterung
und blutigen Terror zu zerbrechen.
Das würde den Weg frei machen
für eine kurzfristige kapitalistische "Lösung" der
großen Krise der bürgerlichen Gesellschaft, eine auf der Überausbeutung
der Arbeiterklasse beruhende Lösung, die sich mit dem Aufstieg
der Arbeiterbewegung als unmöglich erwiesen hatte. Aber auf
lange Sicht könne in einem einzelnen Land ein Zustand stabiler
kapitalistischer Verhältnisse mit solchen Mitteln nicht
wiederhergestellt werden. Sobald die Arbeiterklasse
niedergeschlagen und eine durch Gewalt zusammengehaltene bürgerliche
Gesellschaft etabliert ist, werde der Faschismus seine
terroristische Dynamik nach außen wenden und versuchen, neue
Kolonien zu erobern, ganze Völker in die Sklaverei zu führen,
seine imperialistischen Konkurrenten zu unterwerfen, die
Sowjetunion zu zerschlagen und die Weltherrschaft zu erringen.
Diese tiefschürfende Analyse
des Faschismus vereint und kombiniert verschiedene analytische
Elemente. Jedes dieser Elemente bewahrt sich eine relative
Autonomie, die den besonderen Aspekten der politischen und
gesellschaftlichen Wirklichkeit der imperialistischen Länder in
der Zeit tiefgehender sozioökonomischer Krisen entspricht.
Dabei wird ihre Kombination - im Unterschied zu einem einfachen
Aneinanderreihen - zu einem Instrument, dessen Anwendung es ermöglicht,
die Totalität des Phänomens - Aufstieg des Faschismus - zu
verstehen.
Die faschistische Ideologie und
faschistische (oder faschistoide) politische Gruppierungen haben
sich unabhängig von unmittelbaren Bedürfnissen der
kapitalistischen Klasse von dem Zeitpunkt an entwickelt, wo die
von der Macht der kapitalistischen Monopole und der Macht der
Gewerkschaften erdrückten Mittelklassen der Verbitterung und
der Hoffnungslosigkeit anheimgefallen waren. (Die relative Unabhängigkeit
ihrer Ideologie ist eine andere Sache. Der Rassismus ist in der
für die kolonialimperialistische Epoche typischen bürgerlichen
Ideologie tief verwurzelt, wenngleich er mit Resten vorbürgerlicher
Vorstellungen vermischt ist.) Während einer gewissen
Anfangsphase gibt es mehrere solcher
Gruppierungen, so daß es zwischen den rivalisierenden "Führer"-Kandidaten
zu heftigen Auseinandersetzungen kommt. Nur eine bestimmte
Kombination von Umständen kann das Monopolkapital dazu
veranlassen, den Faschismus tatsächlich großzügig zu unterstützen.
Diese Umstände sind bei einer Vertiefung der wirtschaftlichen
Krise gegeben, wenn das Großkapital ein zwingendes Bedürfnis
hat, wesentliche Elemente der bürgerlichen Demokratie
preiszugeben, wenn das objektive Bedürfnis größerer
Konzentration der politischen Macht besteht, um eine gewisse
Anzahl von drängenden wirtschaftlichen Zielen zu erreichen, und
wenn für mindest einen der Diktator-Kandidaten ein gewisses
Maß an öffentlicher Unterstützung
vorhanden ist.
Vom Standpunkt der allgemeinen,
langfristigen Interessen der kapitalistischen Klasse und der
relativen Stabilität der bürgerlichen Gesellschaft ist das bürgerlich-parlamentarische
Regime jeder Form von Diktatur vorzuziehen, von der
faschistischen gar nicht zu reden. Die Vorherrschaft der bürgerlichen
Klasse beruht auf einer spezifischen Verquickung von
Repressions- und Integrationsmechanismen. Je geringer das
Gewicht der letzteren ist, desto größer ist auf lange Sicht
die gesellschaftliche Instabilität. Der Faschismus und andere
extreme Formen der bürgerlichen Diktatur stellen einen
dauernden Belagerungszustand oder sogar eine Situation
permanenten Bürgerkriegs dar (eine besondere Form des Bürgerkriegs
allerdings, in dem das eine Lager dauernd entwaffnet und der
Macht des anderen Lagers ausgeliefert ist). Diese
Regierungsformen sind für das Bürgertum viel gefährlicher,
denn sie tendieren dahin, die sozialen Spannungen zu erhöhen
und in einer Zeit verschärfter Krisen zu einem explosiven Punkt
zu treiben, ohne daß es irgendwelche Mechanismen der
Klassenversöhnung gibt.
In der Tat fanden bis jetzt
alle siegreichen sozialistischen Revolutionen in Ländern statt,
wo ein diktatorisches Regime dieser oder jener Art während längerer
Zeit existiert hatte (der Zarismus; im besetzten Jugoslawien
nach einer monarchistischen Diktatur eine faschistische; die
Diktatur Chiang Kai-sheks; die Diktatur von Batista; von
Bao-Dai, von Diem und Thieu in Südvietnam usw.).
Der objektive Widerspruch vom
Standpunkt der bürgerlichen Klasseninteressen besteht jedoch in
der Tatsache, daß, während der langfristige soziale und
politische Preis der repressiven Diktaturen hoch und gefährlich
ist, der ökonomische Preis für die bürgerliche Demokratie auf
kürzere oder mittlere Frist unter gewissen Umständen zu hoch
werden kann. In den industriell entwickelten Ländern schließt
die bürgerliche Demokratie eine entwickelte Arbeiterbewegung
(in erster Linie gewerkschaftlich organisierter Massen) ein. Das
hat zur Folge, daß die Ware Arbeitskraft
nicht individuell, sondern kollektiv verkauft wird. Unter
solchen Bedingungen ist der Preis dieser Ware viel höher als
dort, wo die Arbeiterklasse atomisiert ist. Zu diesem höheren
Preis kommen noch weitere Kosten für das Kapital, wie
sogenannte Sozialausgaben, die den Mehrwertanteil am
Nettoprodukt vermindern. Wenn die Gesamtheit des produzierten
Neuwertes stagniert oder gar zu fallen beginnt als Folge einer
ungünstigen Veränderung der innerimperialistischen
Konkurrenzverhältnisse nach einem verlorenen Krieg, wegen einer
ernsten Wirtschaftskrise oder infolge einer Kombination all
dieser Faktoren, dann kann die materielle Möglichkeit, diesen
Preis zu zahlen, schwinden.
Das Bürgertum hat keine andere
Wahl, als zu versuchen, sich der bürgerlichen Demokratie zu
entledigen.
Wir fügen hinzu, daß die
Klasse der Kapitalisten oft, wenn nicht immer, in dieser Frage
geteilter Meinung ist. Man kann die These aufstellen, daß jene
Sektoren, die direkt für den Massenkonsum produzieren, zurückhaltender
sind, wenn es darum geht, eine offene Wendung zur Finanzierung
und Unterstützung einer faschistischen Machtergreifung zu
vollziehen, während die Groß- und Schwerindustrie, die
Produktions- und Rüstungsgüter herstellt, aus naheliegenden Gründen
eher geneigt ist, eine solche Unterstützung ins Auge zu fassen.
Wir sagten, das Bürgertum könnte
versuchen, sich der bürgerlichen Demokratie zu entledigen. Aber
die Errichtung eines faschistischen Regimes hängt nicht nur
davon ab, was innerhalb des Kleinbürgertums und innerhalb der
kapitalistischen Klasse vor sich geht bzw. von der Art und
Weise, wie diese Dinge zwischen ihnen geregelt werden. Sie hängt
weitgehend auch davon ab, was im Lager der Arbeiterklasse
geschieht, d.h. von der Reaktion der organisierten
Arbeiterbewegung.
Im Gegensatz zu dem
"menschlichen Treibsand", den gewisse Führer-Kandidaten
in nicht zu unterschätzenden Mengen auf ihre Seite bringen können,
verfügt die moderne Arbeiterklasse aller industriell
entwickelten Länder über ein enormes Potential
gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Macht. Alle
schöpferischen und produktiven Funktionen der Gesellschaft sind
bei ihr direkt oder bei immer enger mit ihr verbundenen sozialen
Schichten konzentriert. In den meisten dieser Länder waren die
kulturellen und politischen Massenorganisationen der
Arbeiterklasse sehr aktiv, teils bis Ende der zwanziger oder
anfangs der dreißiger Jahre. Sie vereinten Hunderttausende,
wenn nicht Millionen von Menschen, die fähig waren, mit
Enthusiasmus und Hingabe für die gemeinsamen Interessen der
Klasse zu kämpfen. Und in all diesen Ländern
gab es eine große und mächtige Gewerkschaftsbewegung, die
imstande war, die kapitalistische Wirtschaft zu blockieren, und
die potentielle Kraft besaß, den kapitalistischen Staat selbst
zu paralysieren.
Um einen solch starken Gegner
anzugreifen, müssen die bewußten führenden Schichten der
Bourgeoisie nicht nur in einer aus oben angeführten Gründen
ausweglosen Lage sein, sondern sie müssen auch die Überzeugung
haben, daß sie zumindest eine Chance haben, am Ende nicht Kopf
und Kragen zu verlieren als Resultat der gewaltigen Kraftprobe,
ohne die die Zerstörung der bürgerlichen Demokratie unmöglich
erscheint. Jeder Irrtum bei diesen Überlegungen, jede
Fehleinschätzung des Kräfteverhältnisses, würde für die
kapitalistische Klasse verheerende Folgen haben. Sie könnten
vom individuellen wie vom gesellschaftlichen Standpunkt einem
Selbstmord gleichkommen. Barcelona, Madrid, Valencia und Málaga
lieferten im Juli 1936 diesbezüglich ein Lehrbeispiel.
In einer Zeit zunehmender
faschistischer Gefahr, aber noch vor der Machtergreifung widmen
die bedeutendsten Köpfe des Großbürgertums allen Vorgängen
innerhalb der Arbeiterklasse und in der organisierten
Arbeiterbewegung, die mit der faschistischen Gefahr in
Zusammenhang stehen, die größte Aufmerksamkeit. Tatsächlich
kommt ihre Analyse der im Gang befindlichen Veränderung des Kräfteverhältnisses
jener der revolutionären Marxisten aus gleichlaufenden, wenn
auch entgegengesetzten Gründen recht nahe.
Jedes Anzeichen von gemeinsamem
und starkem Widerstand, das im Lager der Arbeiterklasse sichtbar
wird, jeder Hinweis auf eine entschiedene Orientierung auf
massenhafte bewaffnete Selbstverteidigung, jedes Zeichen
wachsender Kampfbereitschaft und entschlossenen Willens, sich
der faschistischen Bestie um jeden Preis zu erwehren, vermehrt
das Zögern und die Zweifel des Großkapitals, ob es der
Weisheit letzter Schluß sei, eine Politik der entscheidenden
Kraftprobe zu verfolgen.
Umgekehrt jede Entwicklung zur
Spaltung, zur Passivität oder Resignation der Arbeiterbewegung,
jeder bedeutende taktische Erfolg der Faschisten, der nicht auf
entschiedenen Widerstand gestoßen ist oder keinen Gegenangriff
auslöst, jedes Anzeichen dafür, daß die Führer der
Massenorganisationen trotz ihrer Phraseologie am Ende vor dem
Faschismus kapitulieren und die Massen nicht imstande sein
werden, eine spontane Gegenoffensive gegen den faschistischen
Angriff zu führen, all diese Symptome werden das Großkapital
zu der Überzeugung gelangen lassen, daß der Preis für den
Wechsel des Regimes geringer ist, als es befürchtet hatte.
Solche Anzeichen der Schwäche beschleunigen den Prozeß der
Machtergreifung durch den Fasschismus, weil sie zeigen, daß der
Bürgerkrieg eine einseitige Sache und die Niederlage der
Arbeiterklasse schwer und dauerhaft sein wird.
Von daher ergibt sich die
absolute Notwendigkeit, sich der Entfaltung des Faschismus von
Anbeginn an gemeinsam, entschlossen und energisch
entgegenzustellen durch den Kampf zur Verteidigung der freien
Organisationen der Arbeiterklasse (dieser "Keimzellen der
proletarischen Demokratie innerhalb der bürgerlichen
Demokratie", wie Trotzki sie zu Recht nannte), des
Streikrechts und aller anderen grundlegenden demokratischen
Freiheiten, ohne die die Arbeiterklasse für eine ganz
historische Zeitspanne entscheidend geschwächt sein (und
bedeutsame wirtschaftliche Nachteile erleiden) würde.
Eine einheitliche,
entschlossene und energische Antwort löst eine Kettenreaktion
aus, die das gesamte politische Klima des Landes verändert. Es
läßt beim Kleinbürgertum Zweifel über die realen
Siegesaussichten der Faschisten aufkommen, ,schwächt somit
deren Massenbasis und verbessert die Chance, nicht unerhebliche
Teile der Mittelklassen zu neutralisieren, wenn nicht gar für
die Sache der Arbeiterbewegung und des Sozialismus zu gewinnen.
Um das zu erreichen, muß
man allerdings ein korrektes, auf diese gesellschaftlichen
Sektoren ausgerichtetes Programm entwickeln. Das Kleinbürgertum
muß das Gefühl haben, daß es der Arbeiterklasse ernst ist mit
ihrem Entschluß, gegen die faschistische Lösung des Problems
der politischen Macht eine Alternative zu bieten.
Die Kapitalisten werden durch
traurige Erfahrungen erkennen, daß das in die faschistischen
Banden investierte Kapital eine zumindest ungewisse Rendite hat,
daß es eventuell ganz verloren ist und weitere schwere Verluste
auf diesem Gebiet nachfolgen werden. Folglich werden sie eine
"zurückhaltende Taktik" anwenden, und ihr Wille, die
Faschisten zu unterstützen, tritt in den Hintergrund und ist
nicht länger Hauptelement ihrer politischen Orientierung.
Was die Arbeiterklasse
betrifft, so wird jeder taktische Erfolg im Kampf gegen die
Faschisten die Einheit in ihren Reihen festigen, ihre
Kampfbereitschaft und ihre Entschlossenheit stärken. Ihr
Vertrauen in ihr eigenes Schicksal und in eine sozialistische
Alternativlösung der gesellschaftlichen Krise, die das Land
erschüttert, wird weiter wachsen. Auf diese Weise wird der
Boden bereitet für eine mächtige soziale und politische
Gegenoffensive, die die sozialistische Revolution sehr rasch auf
die Tagesordnung setzen kann.
All diese Chancen und Möglichkeiten
hängen von der Einheit und Unabhängigkeit der Arbeiterklasse
ab. Wenn die Klasse politisch gespalten bleibt, wenn die
Sozialdemokraten und Kommunisten (Stalinisten) sich gegenseitig
bekämpfen, anstatt ihre Reihen im Kampf gegen den Faschismus zu
schließen, wenn die Kommunisten (Stalinisten) glauben, daß sie
erst die Sozialdemokraten schlagen müssen, bevor sie sich mit
Erfolg gegen die Faschisten wenden, wenn die Sozialdemokraten
meinen, daß es unmöglich sei, die "faschistische
Gewalt" zu neutralisieren, solange sich die
"kommunistische Gewalt" entwickelt, wenn also der
einheitliche Einsatz der Klasse in diesem historischen Kampf im
Namen abstrakter und sektiererischer "Prinzipien" versäumt
wird, wird die Chance immer geringer, einen angemessenen,
entschiedenen und siegreichen Widerstand gegen den wachsenden
faschistischen Terror (der vom bürgerlichen Staatsapparat
ermutigt und immer mehr vorn Großkapital unterstützt wird) zu
leisten. Man wird im Gegenteil erleben, wie eine Kettenreaktion
von Zaudern, Desorientierung und Demoralisierung schließlich in
die Niederlage führt. So geschehen in Deutschland trotz der
zahlreichen Warnungen Trotzkis, die auch über die
trotzkistischen Kreise hinaus ein Echo in anderen
oppositionellen kommunistischen Strömungen fanden, wie in der
KPO unter Führung von Brandler und Thalheimer, sowie in der
SAP, einer linken Abspaltung der SPD.
Die deutsche Katastrophe - die
kampflose Kapitulation der größten
Arbeitermassenorganisationen der Welt - war ein schwerer Schlag
gegen das Selbstvertrauen und das Klassenbewußtsein der
deutschen und internationalen Arbeiterklasse. Die negativen
Auswirkungen dieser Niederlage waren viel schlimmer als die
unmittelbaren wirtschaftlichen und politischen Folgen: Die
Menschheit mußte einen schrecklichen Preis bezahlen für den
Irrsinn eines Otto Wels und eines Stalin (Thälmann war in
diesem Falle nur ein unglückseliges Werkzeug Stalins). Sie
weigerten sich, eine von der Spitze bis zur Basis reichende
militante und bewaffnete Einheitsfront der deutschen
Arbeiterbewegung zu schaffen, obwohl dies sogar nach dem 30.
Januar 1933 noch absolut möglich und von großer Wirkung
gewesen wäre. Niemals zuvor wurde die entscheidende Rolle der Führung
und verräterischer Führungen - im Klassenkampf, des berühmten
"subjektiven Faktors" in der Geschichte, für
Marxisten klarer demonstriert als von 1919 bis 1933 in
Deutschland.
Aber die politische Unabhängigkeit
der Klasse ist eine ebenso wichtige Bedingung für einen
siegreichen Widerstand gegen den Faschismus wie die
Arbeitereinheitsfront. Während im Falle Deutschlands die
verheerenden Folgen der Spaltung im Vordergrund stehen, treten
im Falle Frankreichs und Spaniens in den Jahren 1934 bis 1938
die Folgen der fehlenden politischen Unabhängigkeit der Klasse
krasser zutage. Trotzki hat auch diese Erfahrungen einer ins
einzelne gehenden Analyse unterzogen.
Die gegen die Nazis erlittene
Niederlage der deutschen Arbeiterklasse, die schändliche
kampflose Kapitulation der sozialdemokratischen, stalinistischen
und gewerkschaftlichen Führungen übte eine traumatische
Wirkung auf die internationale Arbeiterbewegung aus. Trotzki
hatte das richtig vorausgesehen, und seit lern Frühjahr 1933
versuchte er verzweifelt, seine kleine Gruppe von Anhängern in
diese Entwicklung einzuschalten.
Das erste Ergebnis dieses
Schocks war ein unwiderstehlicher Drang nach der Schaffung einer
Einheitsfront aller Arbeiterorganisationen gegen die
faschistische Gefahr oder jede andere Form einer reaktionären
Diktatur. Die von der Rechten vorgetragene Offensive vom 6.
Februar 1934 in Frankreich hat in der Tat zur Bildung einer
Einheitsfront der sozialdemokratischen und Kommunistischen
Partei geführt, die für die Dauer von mindestens drei Jahren
das Kräfteverhältnis und die Dynamik der französischen
Gesellschaft total umgekehrt hat. Die Kraft der Arbeiterklasse
hatte sich sprunghaft erhöht. Schließlich führten der
Generalstreik vom Juni 1936 und die Fabrikbesetzungen Frankreich
an die Schwelle einer sozialistischen Revolution.
In Spanien hatte die reaktionäre
Offensive von 1934, die ein rechtes, sich auf den Klerus und
halbfaschistische Kräfte stützendes Regime in den Sattel hob,
einen mächtigen einheitlichen Gegenschlag der Arbeiterklasse
ausgelöst. Er fand zunächst seinen Ausdruck in der
gescheiterten Erhebung vom Oktober 1934 mit nachfolgendem
ununterbrochenem Ansteigen der Massenkämpfe in der ersten
Jahreshälfte 1936. Er erreichte schließlich einen Höhepunkt
mit dem Beginn der sozialistischen Revolution, die in fast allen
großen Städten und in wichtigen Teilen des Landes als Antwort
auf den militärisch-faschistischen Staatsstreich vom Juli 1936
ausbrach.
Aber sowohl in Frankreich wie
in Spanien wurde das enorme Potential dieses einheitlichen
Vorstoßes der Arbeiterklasse in Kanäle abgeleitet, die mit der
Aufrechterhaltung des Privateigentums und des bürgerlichen
Staates durchaus zu vereinbaren waren. Es handelte sich hier in
der Tat um eine von den sozialdemokratischen, stalinistischen
und gewerkschaftlichen Bürokraten (und in Spanien von
bedeutenden Führern der starken anarchistischen Bewegung) bewußt
verfolgte Politik der Klassenzusammenarbeit.
Ab 1935 hatte die
Kommunistische Internationale unter der Führung Stalins die
alte enschewistisch-sozialdemokratische Strategie des kleineren
Übels aufgegriffen, die Politik des Blocks mit dem
"liberalen" gegen das "reaktionäre" Bürgertum.
Diese sogenannte Volksfrontpolitik, die mit einer tiefgehenden
strukturellen Krise der kapitalistischen Wirtschaft und gesamten
bürgerlichen Demokratie einherging - einer Krise, die durch
keinerlei Reformen gemildert werden konnte -, hatte nicht nur
zur Folge, daß eine weitere historische Chance der
Machteroberung durch die Arbeiter verlorenging. Diesmal trugen
die Stalinisten die Schuld, wie 1918-23 die Sozialdemokraten
(die gleiche Erfahrung wiederholte
sich ein drittes Mal 1944-48 in Frankreich, in Italien und in
Griechenland, und die Kommunistischen Parteien sind dabei, eine
weitere Wiederholung in Südwesteuropa vorzubereiten). Die
Politik der Volksfront bedeutet auch, daß der Zusammenbruch der
Arbeiterbewegung unter den Schlägen der Reaktion und des
Faschismus nur aufgeschoben, aber nicht aufgehoben war.
In Spanien hatten die
Faschisten den Bürgerkrieg erfolgreich fortführen können,
nachdem Stalinisten und Reformisten die soziale Revolution im
republikanischen Lager erstickt hatten. In Frankreich hatte die
enorme Kraftentfaltung der Arbeiterklasse sich zersetzt durch
die Kapitulation der aufeinanderfolgenden Volksfrontregierungen
vor dem Großkapital und durch die dadurch verursachte Enttäuschung
und Entmutigung der Arbeiter. Kaum zwei Jahre nach dem
grandiosen Generalstreik vom Juni 1936 kam es zu der Niederlage
des Generalstreiks von 1938, zur Unterdrückung der von den
Arbeitern errungenen Freiheiten, zur Illegalisierung der
Kommunistischen Partei, zur Paralysierung der Gewerkschaften und
zur schändlichen Selbstliquidierung der IV. Republik, als das
senile bonapartistische Regime des Marschalls Pétain ohne jede
Reaktion der Arbeiter an die Macht kam.
Es ist kein Zufall, daß die
vor Hitlers Machtergreifung geübte scharfe Kritik Trotzkis an
der Spaltungspolitik der Sozialdemokraten und Stalinisten heute
in breitesten Kreisen Zustimmung und Bewunderung findet. Dagegen
stoßen seine nicht weniger überzeugenden Darlegungen der
verheerenden Folgen der Volksfront vielfach auf Unverständnis
und werden von den meisten Historikern und Kritikern, seien sie
Trotzki freundlich oder feindlich gesonnen, bestritten. 7 Denn
der Faschismus stellt eine physische Gefahr nicht nur für das
Überleben von revolutionären Organisationen dar, sondern auch
für die gemäßigtesten sozialdemokratischen Organisationen. Er
wird nicht nur von der Vorhut der Arbeiterklasse, sondern auch
von einem großen Teil der kleinbürgerlichen Intelligenz und
von der gesamten Arbeiterbürokratie als barbarische Bedrohung
angesehen. Dies ist ja gerade die materielle Grundlage einer
Einheitsfrontpolitik von der Spitze bis zur Basis.
Die Volksfront dagegen ist
nichts anderes als eine Variante der Politik der Klassenversöhnung
und Klassenzusammenarbeit, wie sie von den reformistischen Führern
und von der Arbeiterbürokratie seit Beginn dieses Jahrhunderts
betrieben wird. Sie hat auch allgemein die Zustimmung der
meisten linken Intellektuellen gefunden. Für sie würde die
Anerkennung der von Trotzki geübten Kritik nicht nur bedeuten,
daß sie ihrer eigenen Vergangenheit und Tradition abschwören müßten,
sondern in vielen Fällen auch, daß sie sich direkt gegen ihre
eigenen materiellen
Interessen wenden würden.
Wie dem auch sei, für die
Marxisten und für die fortgeschrittenen Arbeiter ist es heute
entscheidend zu verstehen, daß ein logischer Zusammenhang
zwischen Trotzkis Kampf für die Einheitsfront in Deutschland
1929-33 und seinem Kampf gegen die Volksfront in Frankreich und
Spanien 1935-38 besteht. Der Aufstieg des Faschismus zu einer
unmittelbaren Gefahr für die organisierte Arbeiterbewegung fällt
zeitlich mit einer tiefgehenden strukturellen Krise der bürgerlich-
parlamentarischen Demokratie zusammen, die mit einer schweren
strukturellen Krise der kapitalistischen Wirtschaft und der bürgerlichen
Gesellschaft in ihrer Gesamtheit verbunden ist. Wer unter
solchen Umständen den Widerstand gegen die faschistische Gefahr
um jeden Preis mit der Verteidigung der bürgerlich-parlamentarischen
Demokratie verbindet, setzt alles auf das Überleben von
Institutionen, die sich bereits im Todeskampf befinden. Wiewohl
es richtig ist, alle politischen und wirtschaftlichen
Errungenschaften der Arbeiterklasse, einschließlich des
allgemeinen Wahlrechts, gegen die Reaktion zu verteidigen, ist
es selbstmörderisch, das Ziel dieser Verteidigung im engen
Rahmen der in Zersetzung begriffenen Institutionen, des bürgerlich-demokratischen
Staates zu halten.
Wenn die in der siegreichen
Verteidigung der Arbeiterorganisationen und der demokratischen
Freiheiten zusammengefaßte Kraft nicht als Katapult für eine
revolutionäre, sozialistische Lösung der Krise der bürgerlichen
Demokratie und Gesellschaft genutzt wird, dann wird diese Kraft
rasch schwinden und sich zersetzen. Nach einem zeitweiligen Rückzug
wird die faschistische oder halbfaschistische Reaktion eine neue
Offensive gegen die wegen des Ausbleibens positiver Ergebnisse
ihrer gewaltigen kämpferischen Anstrengungen entmutigte
Arbeiterklasse beginnen. Es gibt keine Zukunft für die bürgerliche
Demokratie in Situationen schwerster Krise des Kapitalismus, die
die Kapitalverwertung an den Rand der Paralyse bringt. Sie wird
entweder durch die proletarische Demokratie ersetzt oder unter
einer Diktatur von rechts zusammenbrechen. Die Weigerung, diese
Lehre zu beherzigen, hat in Spanien (und später in Chile) zu
Niederlagen geführt, die nicht minder tragisch, blutig und
dauerhaft waren als jene, die in Italien und Deutschland durch
die Spaltung der Arbeiterklasse verursacht wurden.
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