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Theorien über den Faschismus
Ernest Mandel - Internet-Archiv
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Theorien uber den Faschismus / Red.: Hans-Jurgen Schulz [et al.]. - Berlin : Gruppe Avanti, [1993]. - 26 pp. - (Sozialistische Theorie & Geschichte ; 1) Theorien uber den Faschismus : pp.2-15


I 

Die Geschichte des Faschismus ist zugleich die Geschichte der Theorie über den Faschismus. Für kein neues gesellschaftliches Phänomen der modernen Zeit ist die Simultaneität von Erscheinung und Versuch der Erkenntnis so frappant wie für den Faschismus. 

Die Gründe dieser Gleichzeitigkeit sind offensichtlich. Es handelt sich um eine schlagartig auftretende, Neuerscheinung, die eine langfristige historische Tendenz des »Fortschritts« jäh umzuwerfen scheint. Aufmerksame Zeitgenossen sind umso erschrockener, als die Brutalität der geschichtlichen Wende von einer noch präziseren Brutalität der gegen einzelne gerichteten Brachialgewalt begleitet wird. Historisches und individuelles Schicksal werden plötzlich für Tausende - und später für Millionen - identisch. Nicht nur die Niederlage von Gesellschaftsklassen und der Untergang von politischen Parteien, sondern die Existenz und das physische überleben von großen Menschengruppen stehen plötzlich auf der Tagesordnung. 

Es ist deshalb verständlich, daß sich die Betroffenen über das sie treffende Schicksal praktisch sofort um Selbstverständigung bemühten. Aus den Flammen des ersten Volkshauses, das die faschistischen Banden in Italien ansteckten, mußte unvermeidlich die Frage aufleuchten: »Was ist dieser Faschismus?«. Vierzig Jahre lang, bis in die ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, hat diese Frage die führenden Theoretiker sowohl der Arbeiterbewegung als auch der bürgerlichen Intelligenz fasziniert. Obwohl der Druck der Ereignisse und der »unbewältigten Vergangenheit«(1) in den letzten Jahren etwas nachgelassen hat, bleibt die Faschismustheorie weiterhin ein willkommenes Objekt der Politologie und der politischen Soziologie(2). 

Daß in den immer wieder aufkommenden Versuchen zur Deutung der größten Tragödie zeitgenössischer europäischer Geschichte oft nicht viel Wissenschaft und umso mehr zweckbedingte Ideologie steckt, dürfte wohl niemanden erstaunen, der sich der sozialen Bedingtheit der sogenannten Geschichtswissenschaften bewußt ist. Der wissenschaftliche Stoff wird ihnen ohne Zweifel von der historischen und zeitgenössischen Realität selbst: geliefert. Auch das Instrumentarium von Begriffen und Konzepten, womit dieser Stoff geordnet und immer wieder neu geordnet werden soll, wird größtenteils von jeder Generation von Soziologen und Politologen vorgefunden und nur teilweise erneuert. Aber die Art und Weise, in der diese analytischen Instrumente auf den Stoff angewandt werden, und das Ergebnis zu dem sie führen, sind keineswegs immanent vorbestimmt. Von Robert Michels' Konzept der bürokratisierten Partei etwa oder von Mannheims Begriff der freischwebenden Intelligenz aus läßt sich objektiv gesehen in unzählige Richtungen vorstoßen. Wenn der Hauptvorstoß aber nicht nach allen Seiten zugleich erfolgt, sondern nur nach einer oder einigen wenigen, wenn dieser Vorstoß dann noch zusätzlich bestimmte politische Vorstellungen untermauert, die die Selbstsicherheit und Selbstzufriedenheit bestimmter Gesellschaftsklassen bestärkt, dagegen die politische und moralische Angriffsfläche, die sie den ihnen feindlich gegenüberstehenden Gesellschaftsklassen bieten, bedeutend einschränkt - dann kann wohl kaum bezweifelt werden, daß es sich hier um einen funktionellen Prozeß handelt, d.h., daß die vorherrschende Deutung einer bestimmten historischen Erscheinung eine ganz konkrete Funktion in der fortlaufenden gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu erfüllen hat(3). 

In demselben Sinne scheint es uns offensichtlich, daß die Simultaneität von Faschismus und Faschismustheorie kaum auf den wissenschaftlich-kontemplativen Charakter dieser Theorie beschränkt werden kann. Wenn sich Theoretiker mühen, das Wesen des Faschismus zu erfassen, so nicht nur aus Liebe zur Soziologie oder zur wissenschaftlichen Erkenntnis überhaupt, sondern auch in der verständlichen und durchaus vernünftigen Annahme, man würde den Faschismus umso erfolgreicher bekämpfen können, je präziser man seine Natur erfaßt. Die parallele Entwicklung von Faschismus und Faschismustheorie bedingt demnach eine notwendige Inkongruenz. Der Faschismus konnte sich über zwei Jahrzehnte nur darum erfolgreich entwickeln, weil seine wirkliche Natur nicht richtig erfaßt wurde, weil es den gegen seinen Vormarsch Kämpfenden an einer wissenschaftlichen Faschismustheorie mangelte, weil die vorherrschende Faschismustheorie eine falsche - oder unvollständige - war.

Wir sprechen von einer notwendigen Inkongruenz, weil wir im zeitweiligen Sieg des italienischen, deutschen und spanischen Faschismus nicht das Ergebnis irgendwelcher, dem Eingriff praktisch handelnder Menschen und Gesellschaftsklassen entrissener, blinder Schicksalskräfte erblicken, sondern das Produkt genau meßbarer, erfaßbarer und zu bewältigender Verschiebungen der ökonomischen, politischen und ideologischen Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen Klassen des Spätkapitalismus. Und wenn man von der Annahme ausgeht, daß dieser zeitweilige Sieg des Faschismus nicht unvermeidlich und fatal war, dann muß man schon annehmen, daß eine den wirklichen Erscheinungen kongruente und sie durchleuchtende Theorie den Kampf gegen den Faschismus entscheidend erleichtert hätte. 

Die Geschichte des Aufstiegs des Faschismus ist hiermit gleichzeitig die Geschichte der Unzulänglichkeit der vorherrschenden Faschismustheorie. Dies beinhaltet jedoch keineswegs, daß die unzulängliche Faschismustheorie die einzige Faschismustheorie war. Am Rande der organisierten politischen Kräfte und ihrer Ideologien arbeitete die analytische Intelligenz mit einer Schärfe, die heute nur Staunen und Bewunderung hervorrufen kann. Sie erfaßte das neue Phänomen, erkannte zeitig die gewaltige Gefahr, warnte die Zeitgenossen, zeigte den Weg zur Bewältigung des drohenden Ungeheuers und erreichte auf theoretischem Gebiet alles, was auf diesem Feld überhaupt erreicht werden kann. Die Theorie allein kann die Geschichte nicht machen, dazu muß sie die Massen ergreifen. Die bürokratischen Apparate, die die Massenorganisationen der Arbeiterschaft beherrschten, konnten mit Erfolg verhindern, daß eine adäquate Faschismustheorie und eine wirksame Strategie und Taktik zum Kampf gegen den Faschismus in die Massen eindrangen. Sie zahlten dafür später selbst den Preis einer geschichtlichen Niederlage und oft der physischen Vernichtung. Der Preis, den die Menschheit zahlte, war ungleich höher. Auch die Zahl von 60 Millionen Toten des 2. Weltkrieges bringt ihn nur unvollständig zum Ausdruck, denn die objektiven Folgen vor allem des Sieges des deutschen Faschismus im Jahre 1933 wirken bis heute auf vielen Gebieten weiter(4).

In der Geschichte geschieht aber nichts vergeblich; keine historische Leistung bleibt auf die Dauer ergebnislos. Wenn auch die wissenschaftliche Faschismustheorie nicht genügend Masseneinfluß gewann, um den Siegesmarsch der faschistischen Banden in den dreißiger und anfangs der vierziger Jahre aufzuhalten, so wirkt auch sie bis heute weiter, beleuchtet und erklärt neue gesellschaftliche Nachkriegserscheinungen, bereitet neue Kämpfe vor und vermeidet neue Niederlagen, wenn man sich ihre Lehren aneignet. Es ist demnach kein Zufall, daß die Renaissance des schöpferischen Marxismus in der Bundesrepublik vor allem im Zuge der Massenradikalisierung der Studentenschaft - das Interesse an der Faschismustheorie wieder stark belebt hat. Darum ist es angebracht, daß der 1. Band der »Gesammelten Werke« Leo Trotzkis den Schriften über den Faschismus gewidmet ist. Denn unter jener kleinen Zahl von Theoretikern, die Wesen und Funktion des Faschismus richtig erkannt haben, nimmt Trotzki ohne Zweifel den ersten Platz ein.

II 

Trotzkis Faschismustheorie entstammt der Marxschen Methode der Gesellschaftsanalyse und spiegelt die eindrucksvolle Übe­legenheit sowohl dieser Methode als auch der akkumulierten Ergebnisse ihrer Anwendung - im Vergleich zu der Vielzahl von bürgerlichen Geschichts- und Gesellschaftsinterpretationen - auf besonders treffende Weise wider. Diese Überlegenheit liegt vor allem in ihrem »totalen« Charakter, d. h. in dem doppelten Versuch, alle Aspekte gesellschaftlicher Tätigkeit als miteinander verbunden und einander strukturell zugeordnet zu erfassen und in diesem sich fortdauernd wandelnden Komplex von Beziehungen jene zu isolieren, die für den Gesamtkomplex als bestimmend gelten können, d.h.: jene Wandlungen, die der bestehenden Struktur integrierbar sind, von jenen, die nur durch gewaltsame Sprengung der bestehenden Gesellschaftsstruktur erreicht werden können, zu trennen. 

So ist es auffallend, wie hilflos die meisten bürgerlichen Wissenschaftler an das Problem »Primat der Politik oder Primat der Ökonomie«, das in den Debatten über die Faschismustheorie eine wichtige Rolle spielt, herangehen (5). In mühseliger Kleinarbeit versuchen sie, diese oder jene Handlung des Hitlerregimes zu deuten - nutzte sie dem Großkapital?, lief sie den schriftlich dokumentierten Wünschen der Unternehmer zuwider? - anstatt sich die Frage zu stellen, ob die immanenten Entwicklungsgesetze der kapitalistischen Produktionsweise durch dieses Regime verwirklicht oder verneint wurden. Die artikulierte Mehrheit der amerikanischen Großbürger schrie Zeter und Mordio über Roosevelts »New Deal«; sogar Trumans »Fair Deal« wurde mit nicht wenig Geschrei über »schleichenden Sozialismus« beantwortet. Aber kein objektiver Beobachter der Entwicklung der amerikanischen Wirtschaft und Gesellschaft der letzten 35 Jahre könnte heute bestreiten, daß sich in dieser Epoche die Akkumulation des Kapitals erweitert und nicht eingeschränkt hat; daß die amerikanischen Großkonzerne unvergleichbar reicher und mächtiger geworden sind, als sie in den zwanziger Jahren waren; daß die Bereitschaft anderer Gesellschaftsklassen - hauptsächlich der Industriearbeiterschaft - die Herrschaft dieser Konzerne unmittelbar politisch und gesellschaftlich in Frage zu stellen, geringer geworden ist, als sie während und sofort nach der großen Wirtschaftskrise war. Die Schlußfolgerung drängt sich demnach auf, daß Roosevelt und Truman nicht ohne Erfolg die Klassenherrschaft des amerikanischen Besitzbürgertums konsolidiert haben. Sie unter solchen Bedingungen als »antikapitalistische Staatsmänner« darzustellen, bringt demnach die Bilanz ihres Wirkens keineswegs zum Ausdruck und entspricht nur der Unfähigkeit, Parteien und Regierungen nach dem zu beurteilen, was sie wirklich tun, statt nach dem, was sie selbst über sich - oder andere über sie - sagen.

Eine ähnliche Methode muß bei der globalen Beurteilung des Faschismus angewandt werden. Es ist unwesentlich, zu bestimmen, ob Krupp oder Thyssen Hitler mit Begeisterung, mit Zurückhaltung oder mit Widerwillen an diesem oder jenem Punkt seiner Herrschaft begegneten. Es ist dagegen wesentlich, festzustellen, ob die Hitlerdiktatur die gesellschaftlichen Institutionen des Privateigentums an Produktionsmitteln und der Unterordnung der zum Verkauf ihrer Arbeitskraft gezwungenen Werktätigen unter die Herrschaft des Kapitals aufrechterhalten oder zerstört, konsolidiert oder unterminiert hat. Die historische Bilanz scheint uns in dieser Beziehung eindeutig. Wir werden im weiteren noch darauf zurückkommen.

Ebenso hilflos erscheint die Methode, irgendwelche Perioden der Hitlerherrschaft scharf voneinander zu trennen und z.B. mit dem Konzept des »partiellen Faschismus« zu operieren, der im Gegensatz zum »totalen Faschismus« durch eine bedeutsame Sphäre direkter Machtausübung des Großkapitals gekennzeichnet sein soll(6). 

Hier wird nicht nur die völlige Autonomie der politischen Führung unterstellt, sondern auch und vor allem die Autonomie der von gesellschaftlichen Klasseninteressen losgelösten. Kriegswirtschaft. Denn sämtliche Eingriffe der Hitlerregierung in den wirtschaftlichen Machtbereich einzelner Großkonzerne können letzten Endes auf die innere Logik der Kriegswirtschaft zurückgeführt werden(7).

Nun ist aber eine solche »Autonomie« bisher keineswegs bewiesen und kann auch nicht bewiesen werden. Krieg und Kriegswirtschaft fielen nicht vom Himmel und waren keine Kompostblüten faschistischer Ideologie. Sie entsprangen einem bestimmten und bestimmbaren Mechanismus ökonomischer Gegensätze, imperialistischer Konflikte und Expansionstendenzen, die den Interessen der herrschenden monopolkapitalistischen Gruppen der spätbürgerlichen Gesellschaft entsprechen. Schließlich hat es auch vor Hitler einen Ersten Weltkrieg gegeben und gibt es seit dem Zweiten Weltkrieg eine permanente Aufrüstung in den USA(8). Auch die Wurzeln der deutschen Kriegswirtschaft greifen tief in die vorhitlersche Zeit zurück(9). Demnach können die Kriegswirtschaft und ihre ehernen Gesetze keineswegs als etwas dem deutschen Monopolkapitalismus Entgegengesetztes angesehen werden, sondern sind als dessen Produkt zu verstehen. Und wenn die Kriegswirtschaft in ihrer letzten Phase unzweifelhaft Formen extremer Irrationalität nicht nur vom Standpunkt des Einzelkapitalisten, sondern sogar von dem der bürgerlichen Klasse als solcher annimmt, so sind diese Formen nicht auf das Naziregime beschränkt. Sie drücken nur in schärfster Weise die der kapitalistischen Produktionsweise innewohnende Irrationalität aus - die bis zum äußersten betriebene Verbindung von Anarchie und Planung, von objektiver Sozialisierung und privater Aneignung, die bis ins Absurde gesteigerte Verdinglichung gesellschaftlicher Beziehungen - und enthalten dazu einen sehr realen rationalen Kern(10).

Das Wesen des Faschismus kann nicht, wie es die bürgerliche Ideologie versucht, durch Herauslösung eines bestimmten Moments - Autonomie der politischen Führung, »Primat der Politik« - erkannt werden; deren Schwäche zeigt sich auch in ihrer Unfähigkeit, bestimmte historische Eigentümlichkeiten des Faschismus in ein gesellschaftliches Gesamtkonzept zu integrieren. Ernst Nolte mißt dem von Ernst Bloch zuerst in breitem Rahmen verarbeiteten Konzept der »Ungleichzeitigkeit« der Geschichte (d.h. dem Fortbestehen älterer Daseinsformen in der zeitgenössischen Gesellschaft) große Bedeutung für das Verständnis des Phänomens des Faschismus bei (dasselbe Konzept wurde wenigstens im Ansatz von Labriola und Trotzki vor oder unabhängig von Bloch entwickelt)(11). Es ist richtig, daß in der Ideologie des Faschismus und in der Massenpsychologie des deklassierten Kleinbürgertums, das den gesellschaftlichen Nährboden für das Aufkommen faschistischer Massenbewegungen bildet, vorkapitalistische, zünftlerische, halbfeudale Ideologie-Bruchstücke vergangener Zeiten eine nicht unbedeutende Rolle spielen. Nolte kommt aber zu einem offenbaren Trugschluß, wenn er schreibt: »Wenn er (der Faschismus) ein Ausdruck von ’archaischen militaristischen Tendenzen’ ist, dann hat er einen eigenen und unableitbaren Ursprungsbereich in der menschlichen Natur, und dann ist er kein Sproß des kapitalistischen Systems, obgleich er in der Gegenwart nur auf dem Boden des kapitalistischen Systems, d.h. in bestimmten Augenblicken von dessen Gefährdung, emporkommen konnte.« (12).

Das einzige, was aus dem ersten Teil des Satzes folgt, ist der Gemeinplatz, wenn es keinen »aggressiven Zug« in der menschlichen Natur gäbe, würde es auch nicht zu aggressiven Handlungen kommen, ohne Aggressivität keine Aggression, oder, wie es der unsterbliche Molière ausdrückte: Das Opium schläfert den

Menschen ein, weil es einschläfernde Eigenschaften besitzt. Nolte scheint nicht zu verstehen, daß er dadurch noch keineswegs den zweiten Teil seines Satzes bewiesen hat. Er müßte zeigen, daß in »guten alten Zeiten« die »archaischen militaristischen Tendenzen« ebenfalls faschistische oder faschismusartige Regierungsformen hätten erzeugen können. Leider aber führten sie da zu Eroberungszügen von Sklavenhaltern, Raubzügen von Hirtenvölkern oder feudalen Kreuzzügen, die mit den wesentlichen Merkmalen, des faschistischen, Regimes ebenso wenig zu tun haben wie eine römische Villa oder ein mittelalterliches Dorf mit einem modernen Großbetrieb. Demnach ist das Spezifische am Faschismus nicht, daß er die »in der menschlichen Natur verwurzelte Aggressivität« zum Ausdruck bringt (denn diese kommt in unzähligen, verschiedenartigen historischen Bewegungen eben falls zum Ausdruck), sondern daß er diese Aggressivität in eine bestimmte gesellschaftliche, politische und militärische Form gießt, die es früher nie gegeben hat. Und demnach ist der

Faschismus wohl tatsächlich ein Produkt des imperialistischen Monopolkapitalismus. Alle anderen Versuche, den Faschismus hauptsächlich aus psychologischen Faktoren deuten zu wollen, leiden an derselben grundlegenden Schwäche.

Der Versuch, den Faschismus als ein Produkt spezifischer Wesenszüge bestimmter Völker oder Rassen - oder einer bestimmten historischen Vergangenheit - zu erfassen, ist methodologisch kaum stichhaltiger; man steigt von der Individual- zur Völkerpsychologie auf, ohne tatsächlich mehr zu erklären als jene Faktoren, die im allgemeinsten Sinne eine Erscheinung wie den Faschismus überhaupt ermöglichen. Weder die historische Rückständigkeit Italiens, noch die preußisch-militärische Tradition Deutschlands, und ganz sicher nicht der »Hang zur Disziplin« oder die »Furcht vor der Freiheit« können den jähen Auf- und Abstieg des Faschismus während der Jahre 1920 bis 1945 ausreichend erklären. Oft sind diese Argumente deutlich widerspruchsvoll: war Italien ein relativ rückständiges Industrieland, so war Deutschland gerade die entwickeltste Industrienation auf dem europäischen Festland. War der »Hang zur Disziplin« ein Grundzug des »deutschen Volkscharakters« (zurückzuführen auf die verspätete Aufhebung der Leibeigenschaft in Preußen), so gehören die Italiener zu den »disziplinlosesten Völkern« Europas, nicht zu reden von der dort völlig fehlenden militärischen Tradition. Als sekundäre Faktoren und Ursachen haben diese Elemente ohne Zweifel eine Rolle gespielt, um dem Faschismus in jedem einzelnen Fall einen spezifisch nationalen Charakter zu verleihen, der der historischen Besonderheit von Monopolkapitalismus und Kleinbürgertum in jedem einzelnen Land entspricht. Aber gerade wenn man den Faschismus als allgemeine Erscheinung erfaßt, die ohne besondere geographische Begrenzung in allen imperialistischen Ländern Wurzel faßte - und morgen wieder Wurzel fassen kann - sind die Erklärungsversuche, die hauptsächlich die nationalen Besonderheiten dieser oder jener Situation in den Vordergrund rücken, besonders unzulänglich (13).

Die Detailforschung nach besonderen Interessengruppen, und engeren, sich befehdenden Sektoren des Großkapitals als spezifischen »Trägern« des Faschismus hat vor allem durch die Veröffentlichung der Protokolle und Materialien der Nürnberger Prozesse ein weites Betätigungsfeld gefunden. Vieles davon bestätigt, was man zuvor ahnen oder theoretisch-deduktiv erkennen konnte: daß es in stärkerem Maße die Schwerindustrie als die Leichtindustrie war, die an der Hitlerschen Machtergreifung und Aufrüstung ein Interesse hatte, daß die »Arisierung« jüdischen Kapitals keine bedeutende Rolle in der deutschen Wirtschaft gespielt hat(14); daß der IG-Farben-Trust einen besonders aktiven und bestimmenden Einfluß auf eine Reihe von wirtschafts- und finanzpolitischen Entscheidungen des Hitlerregimes ausüben konnte, usw.(15) Es ist schließlich nicht nötig, Berge von Akten zu durchforschen, um zu erkennen, daß in der besonderen Situation des deutschen Kapitalismus anno 1934 Fabrikanten von Kanonen, Panzern und Ersatzmaterialien mehr an der Aufrüstung profitierten als Hersteller von Unterwäsche, Spielwaren oder Taschenmessern. Nolte aber begeht wiederum einen typischen Denkfehler, wenn er behauptet: »...wenn er (Otto Bauer) aber verschiedene in ihren Interessen wesentlich (?) entgegengesetzte Fraktionen ’der’ Kapitalistenklasse unterscheidet (z.B. die auf Export angewiesene Fertigwarenindustrie oder die pazifistische Rentnerklasse im Gegensatz zu der an Rüstungsprofiten interessierten Schwerindustrie), dann nützt die altgewohnte und triviale Unterscheidung von herrschender Klasse und regierender Kaste nichts mehr, und dann fällt die Rede vom Faschismus als dem Vollzugsorgan ’des’ Kapitals dahin. Dann löst sich die konstruierte ökonomische Einheit in die Vielfalt ihrer historischen Elemente auf, und als relevante Frage bleibt nur die zurück, unter welchen Voraussetzungen die Vielfalt als Einheit erscheinen muß, und inwiefern sie gerade dadurch eine Herrschaft verlieren kann, die in gewisser Hinsicht seit 150 Jahren in allen Staaten Europas selbstverständlich, aber in keinem Falle uneingeschränkt war«(16).

Die gesamte Argumentation dreht sich um das Wort »wesentlich« und kann nur durch eine Analyse der Wesenszüge der kapitalistischen Produktionsweise verdeutlicht werden. »Wesentlich« sind für diese Produktionsweise und die in ihr herrschende Klasse weder die Ausrichtung der Außenpolitik noch die Möglichkeit, politisch frei reden und schreiben und direkt von ihr selbst gewählte Vertreter mit den Regierungsgeschäften betrauen zu können. Das alles hat es in verschiedenen Epochen der bürgerlichen Gesellschaft gegeben und in vielen anderen wiederum nicht (oder nicht in demselben Maße). Wesentlich ist das Privateigentum, die Möglichkeit, Kapital zu akkumulieren und Mehrwert zu realisieren. Und da sprechen die Zahlen eine besonders deutliche Sprache. Die Profite sämtlicher Industrie- und Handelsunternehmen stiegen von 6,6 Milliarden Mark im Jahre 1933 auf 15 Milliarden Mark im Jahre 1938; aber während der Umsatz der Bremer Wollkämmerei praktisch stagnierte und der der AEG nur um 55% zunahm, verdoppelte sich der von Siemens, verdreifachte sich der Umsatz von Krupp und Mannesmann-Röhrenwerke, versechsfachte sich der der Philipp Holzmann AG und verzehnfachte sich der der Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken AG(17). Weit davon entfernt, nur eine gedankliche Konstruktion zu sein, ergibt sich demnach ein sehr eindeutiges wirtschaftliches Gesamtinteresse der kapitalistischen Klasse, wie sich gleichzeitig auch Sonderinteressen im Rahmen dieses Gesamtinteresses immer wieder abheben und durchsetzen. Schließlich war der Satz, das kapitalistische Privateigentum entstünde und wachse immer aus der Expropriation vieler kleiner (und manch großer) Eigentümer, nicht in der Hitlerschen Epoche geschrieben worden, sondern bezog sich auf die Gesamtgeschichte dieser Produktionsweise. 

Die methodologischen Schwächen der Ansätze bürgerlicher Faschismustheorien springen somit deutlich ins Auge. Weil ihnen das Verständnis für Gesellschaftsstrukturen und Produktionsweisen fehlt, sind die bürgerlichen Ideologen unfähig, die widerspruchsvollen Momente der faschistischen Wirklichkeit als eine dialektische Einheit zu erfassen und die Faktoren zu erkennen, die sowohl die Integration wie die darauffolgende Desintegration - den Aufstieg und den Niedergang - dieser Momente in einer zusammenhängenden Totalität bestimmen.

Die methodologische Überlegenheit des Marxismus besteht darin, daß ihm eine solche Integration widerspruchsvoller analytischer Momente - in Widerspiegelung einer widerspruchsvollen gesellschaftlichen Wirklichkeit - gelingen kann. Der Marxismus garantiert keinesfalls eine solche Analyse; das zeigen leider zu viele Beispiele, deren Kritik viele Arbeiten des hier vorliegenden Bandes gelten; daß er sie ermöglicht, zeigt in glänzender Weise gerade der Beitrag Trotzkis zur Faschismustheorie.

III 

Trotzkis Faschismustheorie bildet eine Einheit von sechs Elementen, denen eine gewisse Autonomie zukommt; jedes durchläuft auf Grund seiner inneren Gegensätze eine bestimmte Entwicklung, aber sie können nur als geschlossene und dynamische Totalität verstanden werden und nur in ihrem inneren Zusammenhang Aufkommen, Sieg und Niedergang der faschistischen Diktatur erklären. 

a) Das Aufkommen des Faschismus ist Ausdruck einer schweren gesellschaftlichen Krise des Spätkapitalismus, einer Struktur­krise, die, wie in den Jahren 1929 bis 1933, wohl mit einer klassischen wirtschaftlichen Überproduktionskrise zusammenfallen kann, aber weit über eine solche Konjunkturschwankung hinausgeht. Es handelt sich grundsätzlich um eine Krise der Verwertungsbedingungen des Kapitals, d.h. um die Unmöglichkeit, eine »natürliche« Kapitalakkumulation unter den gegebenen Konkurrenzbedingungen auf dem Weltmarkt (d.h. auf dem bestehenden Niveau der Reallöhne und der Arbeitsproduktivität, bei dem bestehenden Zugang zu Rohstoffen und Absatzmärkten) fortsetzen zu können. Die historische Funktion der faschistischen Machtergreifung besteht darin, diese Verwertungsbedingungen schlagartig. und gewaltsam zugunsten der entscheidenden Gruppen des Monopolkapitalismus zu ändern. 

b) Die politische Herrschaft des Bürgertums wird unter den Bedingungen des Imperialismus und der historisch gewachsenen, modernen Arbeiterbewegung am günstigsten - d.h. mit den geringsten Unkosten - auf dem Wege der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie ausgeübt, die u.a. gleichzeitig die Vorteile bietet, durch gewisse Sozialreformen die Explosivität der gesellschaftlichen Gegensätze periodisch abbauen zu können und einen bedeutenden Sektor der bürgerlichen Klasse direkt oder indirekt (über bürgerliche Parteien, Zeitungen, Hochschulen, Unternehmerverbände, Kommunal- und Regionalverwaltungsorgane, die Spitzen des Staatsapparates, das Zentralbanksystem usw.) an der Ausübung der politischen Macht zu beteiligen. Diese Herrschaftsform des Großbürgertums - historisch gesehen keineswegs die einzige(18) - ist jedoch durch ein sehr labiles Gleichgewicht von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen bedingt. Wird dieses Gleichgewicht durch die objektive Entwicklung zerschlagen, dann bleibt dem Großbürgertum kaum ein an derer Ausweg als der Versuch, auch um den Preis der Aufgabe der unmittelbaren Ausübung der politischen Macht eine höhere Form der Zentralisierung der exekutiven Staatsgewalt zur Verwirklichung seiner historischen Interessen durchzusetzen. Historisch gesehen ist also der Faschismus Verwirklichung wie Verneinung der dem Monopolkapital innewohnenden und von Hilferding zuerst erkannten Tendenzen zur totalitären »Organisierung« des gesamten gesellschaftlichen Lebens in seinem Interesse(19): Verwirklichung, weil der Faschismus letzten Endes diese historische Funktion erfüllt hat; Verneinung, weil er sie, entgegen den Annahmen Hilferdings, nur durch die weitgehende politische Expropriation des Bürgertums selbst erfüllen konnte(20). 

c) Unter den Bedingungen des modernen industriellen Monopolkapitalismus und der zahlenmäßig ungeheuren Disproportion . zwischen Lohnabhängigen und Großkapitalbesitzern ist eine solche gewaltsame Zentralisierung der Staatsgewalt mit Ausschaltung der meisten (wenn nicht aller) Errungenschaften der modernen Arbeiterbewegung (u.a. jener »Keime der proletarischen Demokratie im Rahmen der bürgerlichen Demokratie«, wie Trotzki zu Recht die Organisationen der Arbeiterbewegung nennt) praktisch mit rein technischen Mitteln unmöglich. Weder eine Militärdiktatur noch ein reiner Polizeistaat - ganz zu schweigen von einer absolutistischen Monarchie - verfügen über zureichende Mittel, um eine millionenstarke, bewußte Gesellschaftsklasse für längere Zeit zu atomisieren, zu entmutigen und zu demoralisieren, und so einem schon durch das einfache Spiel der Marktgesetze periodisch begünstigten Wiederaufflackern wenigstens elementarer Klassenkämpfe vorzubeugen. Dazu ist eine Massenbewegung notwendig, die ihrerseits große Menschenmengen in Bewegung bringt, die bewußteren Teile des Proletariats in systematischem Massenterror, in Kleinkrieg und Straßenkrieg zermürbt und demoralisiert und es nach der Machtübernahme durch völlige Zerschlagung der Massenorganisationen nicht nur atomisiert, sondern auch entmutigt und resignieren läßt. Diese Massenbewegung kann es - mit den ihr eigenen, den Bedürfnissen der Massenpsychologie angepaßten Methoden - dann sogar erreichen, daß nicht nur ein riesiger Apparat von Blockwarten, Straßenkontrolleuren, NSBO-Zellen und einfachen Spitzeln die Massen der klassenbewußten Lohnabhängigen ständig überwacht, sondern daß auch ein Teil der weniger bewußten Arbeiter und (vor allem) Angestellten ideologisch beeinflußt und teilweise in eine funktionierende Klassenzusammenarbeit reintegriert wird. 

d) Eine solche Massenbewegung kann nur auf dem Boden der dritten Gesellschaftsklasse entstehen, die im Kapitalismus neben Bürgertum und Proletariat existiert: des Kleinbürgertums. Ist dieses Kleinbürgertum von der Strukturkrise des Spätkapitalismus so schwer betroffen, daß es in Hoffnungslosigkeit verfällt (Inflation, Bankrott der Kleinunternehmen, Massenerwerbslosigkeit von Akademikern, Technikern und höheren Angestellten usw.), dann wird wenigstens in einem Teil dieser Gesellschaftsklasse aus einer Verbindung von ideologischen Reminiszenzen und psychologischen Ressentiments eine typisch kleinbürgerliche Bewegung entstehen, die extremen Nationalismus und, zumindest verbal ausgeprägte, antikapitalistische Demagogie(21) mit größter Feindschaft gegenüber der organisierten Arbeiterbewegung (»wider den Marxismus«, »wider den Kommunismus«) verknüpft. Sobald sich diese vor allem in den deklassierten Teilen des Kleinbürgertums rekrutierte Bewegung auf den Einsatz direkter physischer Gewalt gegen die Lohnabhängigen, ihre Aktionen und Organisationen einstellt, ist eine faschistische Bewegung geboren. Nachdem sie eine autonome Entwicklung durchlaufen hat, um eine Massenbewegung zu werden und Massenwirkung zu erreichen, bedarf sie der finanziellen und politischen Unterstützung wichtiger Teile des Monopolkapitals, um sich, bis zur Machtergreifung durchzusetzen. 

e) Die vorherige Zermürbung und Zurückschlagung der Arbeiterbewegung, die, wenn die faschistische Diktatur ihre historische Rolle erfüllen will, unerläßlich ist, ist jedoch nur möglich, wenn sich in der der Machtergreifung vorangehenden Periode die Waagschale entscheidend zugunsten der faschistischen Banden und zuungunsten der Lohnabhängigen senkt(22). Der Aufstieg der faschistischen Massenbewegung kommt sozusagen einer Institutionalisierung des Bürgerkriegs gleich, in dem jedoch objektiv gesehen beide Seiten eine Erfolgschance besitzen (dies ist, nebenbei gesagt, der Grund, weshalb das Großbürgertum nur unter ganz besonderen, »abnormen« Bedingungen derlei Experimente gutheißen und finanzieren wird; ein bestimmtes Risiko ist in solcher va-banque-Politik ohne Zweifel von vornherein vorhanden). Gelingt es den Faschisten, den Feind, d.h. die organisierte Arbeiterschaft, zu zersplittern, zu paralysieren, zu entmutigen und zu demoralisieren, dann ist ihnen der Sieg gewiß. Gelingt es aber der Arbeiterbewegung, erfolgreich zurückzuschlagen und selbst die Initiative zu ergreifen, dann kann nicht nur dem Faschismus, sondern auch dem Kapitalismus, der ihn gebar, eine entscheidende Niederlage zugefügt werden. Das hat technisch-politische wie sozialpolitische und sozialpsychologische Gründe. Die faschistischen Banden organisieren anfangs nur die entschlossensten und desperatesten Teile des Kleinbürgertums (seinen »Wildgewordenen« Teil). Die Masse der Kleinbürger, wie auch der bewußtlose und nicht organisierte Teil der Lohnabhängigen und vor allem der Arbeiter- und Angestelltenjugend, wird normalerweise zwischen den beiden Lagern hin- und herschwanken. Er wird dazu neigen, sich auf diejenige Seite zu schlagen, die am meisten Kühnheit und Entschlußkraft zeigt; er setzt am liebsten auf das Pferd, das gewinnt. Deshalb läßt sich sagen, daß der Sieg des Faschismus historisch gesehen die Unfähigkeit der Arbeiterbewegung zum Ausdruck bringt, die Strukturkrise des Spätkapitalismus in ihrem eigenen Interesse und gemäß ihren eigenen Zielen zu lösen. Erst eine solche Krise bietet im allgemeinen der Arbeiterbewegung die Chance, sich durchzusetzen. Nur wenn diese Chance verpaßt wird und die Klasse verführt, gespalten und demoralisiert ist, kann der Zusammenstoß zum Triumph des Faschismus führen. 

f) Ist es dem Faschismus gelungen, »als Rammbock die Arbeiterbewegung zu zerschlagen«, dann hat er vorn Standpunkt der Monopolkapitalisten seine Schuldigkeit getan. Seine Massenbewegung wird bürokratisiert und dem bürgerlichen Staatsapparat weitgehend einverleibt, was nur geschehen kann, wenn die extremsten Formen plebejisch-kleinbürgerlicher Demagogie, die zu den »Zielen der Bewegung« gehörten, von der Oberfläche und aus der offiziellen Ideologie verschwinden(23). Dies steht zu der fortdauernden Verselbständigung des höchst zentralisierten Staatsapparates keineswegs im Gegensatz. Ist aber die Arbeiterbewegung besiegt und haben sich die Verwertungsbedingungen des Kapitals im Inneren entscheidend zugunsten des Großbürgertums verändert, so konzentriert sich dessen politisches Interesse mit Notwendigkeit auf eine ähnliche Änderung auf dem Weltmarkt. Dazu drängt gleichfalls der drohende Staatsbankrott. Die va-banque-Politik des Faschismus wird aus der sozialpolitischen in die finanzielle Sphäre hineingetragen, schürt die permanente Inflation und läßt letzten Endes keinen anderen Ausweg als das außenpolitisch-militärische Abenteuer. Diese ganze Entwicklung bedingt jedoch innenpolitisch wie wirtschaftlich (im Zuge der Kriegswirtschaft) keinen Ausbau, sondern einen Abbau der Position des Kleinbürgertums (mit Ausnahme jenes Teils, der mit Pfründen im verselbständigten Staatsapparat abgespeist werden kann). Es kommt zu keiner »Brechung der Zinsknechtschaft«, sondern zur prononcierten Beschleunigung der Konzentration des Kapitals. Hierin zeigt sich der Klassencharakter der faschistischen Diktatur, der dem der faschistischen Massenbewegung nicht entspricht. Nicht die historischen Interessen des Kleinbürgertums, sondern die des Monopolkapitals werden durch sie vertreten. Setzt sich diese Tendenz einmal durch, dann vermindert sich notwendigerweise die bewußte und aktive Massenbasis des Faschismus. Die faschistische Diktatur hat die Tendenz, selbst diese Massenbasis abzubauen und zu zersetzen. Die faschistischen Banden werden zu Anhängseln der Polizei. Der Faschismus verwandelt sich in der Phase seines Niedergangs in eine besondere Form des Bonapartismus zurück(24). 

Dies sind die konstitutiven Elemente von Trotzkis Faschismustheorie. Sie fußt auf einer Analyse der besonderen Bedingungen, unter denen sich der Klassenkampf in den hochindustrialisierten Ländern während der spätkapitalistischen Strukturkrise (Trotzki selbst sprach von der »Epoche des Niedergangs des Kapitalismus«) entwickelt, und auf einer besonderen - für Trotzkis Marxismus charakteristischen - Verbindung objektiver und subjektiver Faktoren in der Theorie des Klassenkampfes wie beim Versuch, ihn praktisch zu beeinflussen.

IV

In welchem Verhältnis steht nun die Faschismustheorie Trotzkis zu der der anderen Strömungen der Arbeiterbewegung? Welche spezifischen Merkmale ergeben sich aus einem Vergleich mit anderen Versuchen, das Problem des Faschismus mit Hilfe der marxistischen Methode zu ergründen? 

Bei den sozialdemokratischen Autoren fällt vor allem die pragmatisch-apologetische Natur der Analyse auf; die Theorie muß der erzopportunistischen Praxis zu Hilfe eilen und ihr Versagen durch die »Schuld des Gegners« erklären. Dieser Opportunismus hatte in der damaligen Zeit die Nabelschnur zum objektivistisch-fatalistischen Vulgärmarxismus Kautskys noch nicht durchschnitten. Neben der »Schuld der Gegner« erscheint als ultima ratio immer die Gewalt der »objektiven Bedingungen«: die »Kräfteverhältnisse« erlaubten halt nicht, Besseres zu erreichen. Daß eigenes Handeln diese Kräfteverhältnisse ändern kann, daß auch eigene Untätigkeit diese Kräfteverhältnisse - nämlich zugunsten des Klassenfeindes - ändert, war dieser Schule nie geläufig. 

Grundtenor ist hierbei die abgeschmackte These, die radikale Agitation der »Bolschewisten« hätte dem Faschismus die Möglichkeit oder zumindest den Vorwand zur Mobilisierung der verängstigten und konservativen Bevölkerungsschichten geboten. Der Faschismus sei die Strafe, die dem Proletariat von der Großbourgeoisie für kommunistische Agitation auferlegt worden sei. »Wollt Ihr die Kleinbürger nicht erschrecken und die Großkapitalisten nicht reizen, so bleibt gemäßigt«. Diese liberale Weisheit der »goldenen Mitte«(25) übersieht, daß es gerade der Bankrott der »gemäßigten« Alltagspolitik im bürgerlichen Parlamentarismus unter Bedingungen der verschärften Strukturkrise des Spätkapitalismus ist, der die Kleinbürger verzweifelt in die Arme der Faschisten treibt. Um sie davon abzuhalten, muß eine Alternativlösung angeboten werden, für die sich Erfolgschancen in der täglichen Praxis des Kampfes ergeben. Fehlt diese Alternativlösung und bleibt dem verarmten und deklassierten Kleinbürgertum nur die Wahl zwischen ohnmächtigem Parlamentarismus und aufmarschierendem Faschismus, dann wird es sich konsequenterweise für den Faschismus entscheiden. Und gerade die »gemäßigte« Selbstbeschränkung und Selbsteinschüchterung der Arbeiterbewegung wird die Massen in dem Gefühl bestärken, das faschistische Pferd sei das aussichtsreichste. 

Besonders hilflos zeigt sich die sozialdemokratische Faschismustheorie dann, wenn sie die These »Um jeden Preis an der Legalität festhalten« vertritt, in dem irrigen Glauben, gerade wenn die Faschisten den Boden der Legalität verließen, müßten die Organisationen der Lohnabhängigen sich ausschließlich auf legale Aktionen beschränken. Sie übersieht dabei, daß Legalität und Staat nicht Verdinglichungen abstrakter Begriffe, sondern Ausdruck konkreter Gesellschaftsinteressen und -klassen sind. Die »Legalität« und der »Staat«, das waren letzten Endes die Richter, die Oberste und Majore der Reichswehr, die durch tausend Fäden mit ihren »Kameraden« vom Stahlhelm und von der SS verbunden waren, und die die organisierte Arbeiterbewegung ebenso - nur etwas »zivilisierter« - haßten und bekämpften, wie die faschistischen Banden es taten. Sie als Schutz gegen diese Banden zu benutzen, hieß tatsächlich, jenen schutzlos gegenüberzutreten.

 

Ein bedeutsames Element der sozialdemokratischen Faschismustheorie liegt auch in der Hypostasierung des Faktors »Wirtschaftskrise« und »Massenerwerbslosigkeit«: Wenn es keine Wirtschaftskrise gäbe, würde die Gefahr des Faschismus verschwinden. Man übersieht dabei, daß die Strukturkrise wichtiger ist als die Konjunkturkrise und daß beim Fortdauern der ersteren auch die Milderung der letzteren die Lage nicht grundlegend ändert. Das mußten belgische Sozialdemokraten wie Spaak und de Man erleben, die mit allen Mitteln auf den Abbau der Erwerbslosigkeit hinarbeiteten - auch unter Preisgabe wichtiger Positionen, vor allem der Kampfkraft der Lohnabhängigen - und dennoch die Faschisten wachsen und nicht zurückfluten sahen. 

Alle Ansätze zu dieser sozialdemokratischen Faschismustheorie sind bereits in den ersten Arbeiten vorhanden, die die italienischen Sozialdemokraten der über sie hereinbrechenden Katastrophe widmeten. So schreibt Giovanni Zibordi schon im Jahre 1922: »... den Exzessen des Extremismus (ist) die Verantwortung dafür zuzuschreiben, daß sie die Atmosphäre geschaffen haben, wie der sozialistischen und Arbeiterbewegung im ganzen die Verantwortung dafür zukommt, daß sie jene kleinbürgerlichen und intellektuellen Schichten in die Arme des Faschismus stießen, die keinen wahren ökonomischen Grund haben, den Sozialismus zu fürchten und zu hassen«(26). Turati wiederholt ein paar Jahrespäter: » ... infolge der philo‑bolschewistischen Exzesse (ist) die Furcht der besitzenden Klassen, ihre Privilegien zu verlieren, so infantil und phantastisch sie war, in gewissen Augenblicken real und sehr groß gewesen ... Der Schluß ist zulässig, daß ohne dieses Verhalten die plutokratisch faschistische Zusammenarbeit nicht möglich gewesen wäre«(27). Und es ist zu bedauern, daß ein ehemaliger Kommunist und Marxist wie Angelo Tasca in seinem vor dem Zweiten Weltkrieg verfaßten Buch zu dem Schluß kommt, man könne nicht gleichzeitig Staatsapparat und Faschismus bekämpfen und müsse sich deshalb mit dem ersten gegen den letzteren verbünden(28). 

Die deutschen Sozialdemokraten bieten nur einen vulgarisierten und verflachten Abklatsch dieser Thesen. Ihr bedeutendster Theoretiker der zwanziger Jahre, der belgische Antimarxist Hendrik de Man, der die Psychologie des Kleinbürgertums im Faschismus zu ergründen versuchte, kam auch nach der deutschen Katastrophe zu dem Schluß, man dürfe das Kleinbürgertum nicht »erschrecken« und ließ deshalb eine große Welle von Arbeiterenthusiasmus und Kampfwillen für den Generalstreik im Jahre 1935 jäh abblasen, womit er alle Voraussetzungen für das riesige Anschwellen der faschistischen Bewegung Belgiens seit dem Jahre 1936 schuft(29). Nur Léon Blum war klug genug, nach der Machteroberung Hitlers auszusprechen, der Sieg der Nazis sei die Strafe dafür, daß die deutsche Sozialdemokratie nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches die Ansätze zur proletarischen Revolution erstickt und dadurch alle jene Faktoren - von der Reichswehr bis zu den Freikorps - freigesetzt und gestärkt hätte, die sie nun schmählich davonjagen würden(30). Aber derselbe Léon Blum konnte, als er wenige Jahre später mit einem großen Massenstreik konfrontiert wurde, nichts anderes tun, als die Abwiegelungspolitik der Ebert und Scheidemann wiederholen, was zum Zusammenbruch der Dritten Republik und zur Machtergreifung des senilen Vichy-Bonapartismus führen mußte. 

Die offizielle Faschismustheorie der Komintern nach Lenins Tod hat die Bewährungsprobe kaum besser bestanden als die sozialdemokratische. Gewiß gab es Ansätze zu einer marxistischen Analyse der drohenden Gefahr, die international über der Arbeiterbewegung hing. Bei Clara Zetkin, Radek, Ignazio Silone und manchmal auch bei Sinowjew findet man Elemente einer marxistischen Faschismustheorie. Sehr bald geriet aber die theoretische Arbeit der Komintern ins Fahrwasser der Fraktionskämpfe der russischen Kommunistischen Partei. Es galt nicht mehr, objektive Prozesse wissenschaftlich zu erfassen, sondern einer Stalin hörigen Fraktion die Führung der KPD zuzuspielen. Diesem Ziel wurden rücksichtslos alle Erfordernisse marxistischer Analyse und des revolutionären Klassenkampfes in Deutschland untergeordnet. 

Das Ergebnis ist bekannt. Es ist die Theorie, die den eigenständigen Massencharakter der faschistischen Bewegung verkennt und den Faschismus als direkten Ausdruck der Interessen der »aggressivsten Teile des Monopolkapitals« versteht. Ihr folgt die Theorie des Faschismus als des »Zwillings« der Sozialdemokratie im Dienste des Monopolkapitals, die Theorie der »graduellen« oder »schrittweisen Faschisierung« der Weimarer Republik, die die Werktätigen über den katastrophalen Charakter der faschistischen Machtergreifung täuscht und sie vom Kampf gegen noch bevorstehende Gefahren abhält. Das Ganze wird durch die Theorie des »Sozialfaschismus« gekrönt, die in ihrer extremsten Form zu der These führt, erst müsse man die Sozialdemokratie geschlagen haben, bevor man den Faschismus schlagen könne(31). Als Abschluß kam noch der typisch sozialdemokratische und defätistische Zusatz, »Hitler würde« - u. a. durch seine Unfähigkeit, die Wirtschaftskrise zu lösen - »rasch abwirtschaften«, »und nach Hitler kommen wir«. Dieses »analytische« Element beinhaltete praktisch, daß man sich bereits mit der Unabwendbarkeit der Hitlerschen Machtergreifung abgefunden hatte und die Auswirkungen dieser Machtergreifung auf die Zerschlagung der Arbeiterbewegung gewaltig unterschätzte. Die gesamte Analyse konnte nur den Widerstand gegen den siegreichen Aufmarsch der Nazis verwirren und paralysieren.

Erst 25 Jahre später vermochte sich die »offizielle« kommunistische Weltbewegung zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der falschen Faschismustheorie Stalins aufzuraffen. Der praktische Bruch mit dieser Theorie war allerdings sehr rasch geschehen - nachdem es zu spät war. Die Wende zur Volksfrontpolitik im Jahre 1935 implizierte eine völlige Revision der Theorie des »Sozialfaschismus« und eine sprunghafte Wendung zu einer ebenso fehlerhaften Rechts-Politik, nachdem die ultralinke Politik so verheerende Folgen gehabt hatte(32). Aber da Stalins Schriften und Thesen bis zum Jahre 1956 tabu waren, begann eine vorsichtige Revision der Sozialfaschismustheorie erst nach Beginn der sogenannten Entstalinisierung(33). Der italienische KP-Führer Togliatti sprach offen aus, was die meisten kommunistischen Kader im stillen dachten, und die offizielle, in der DDR veröffentlichte »Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung« unterwarf Theorie und Praxis der KPD in den Jahren 1930 bis 1933 einer zwar vorsichtigen, aber doch gründlichen Kritik, ohne freilich neue Fehler in der Bestimmung von Wesen und Funktion des Faschismus zu vermeiden(34). 

Die Theorien von der »graduellen Faschisierung« und vom »Sozialfaschismus« sind nicht nur falsche Einschätzungen der politischen Konjunktur und taktische Fehler im Kampf gegen den Aufmarsch des Faschismus. Sie gehen am entscheidenden Merkmal des Faschismus vorbei, das durch Trotzki so richtig erkannt und durch die Geschichte so tragisch bestätigt wurde. 

Der Faschismus ist nicht bloß eine neue Etappe der Stärkung und Verselbständigung der Exekutive des bürgerlichen Staates. Er ist nicht bloß »die offene Diktatur des Monopolkapitals«. Er ist eine besondere Form der »starken Exekutive« und der »offenen Diktatur«, die sich durch völlige Zerschlagung sämtlicher Arbeiterorganisationen - auch der gemäßigten, sicher der sozialdemokratischen - kennzeichnet. Er ist der Versuch, durch völlige Atomisierung der Werktätigen jegliche Form des organisierten Klassenkampfes, der organisierten Selbstverteidigung der Lohnabhängigen, gewaltsam zu verhindern. Man sieht, wie falsch die These ist, die besagt: weil die Sozialdemokratie dem Faschismus den Weg ebne, seien Faschismus und Sozialdemokratie Verbündete, und man könne sich nicht mit der letzteren gegen den ersteren Verbünden. 

Gerade das Umgekehrte trifft zu. Die Sozialdemokratie bereitete tatsächlich die Machtergreifung des Faschismus vor, indem sie die Kampfkraft der Werktätigen durch ihre Politik der Klassenkollaboration untergrub und sich mit dem Bankrott der parlamentarischen Demokratie identifizierte. Die Machtergreifung des Faschismus ist aber gleichzeitig der Untergang der Sozialdemokratie. Dessen werden sich die Masse der sozialdemokratischen Mitglieder und nicht wenige ihrer Führer umso bewußter, je näher der Augenblick der Katastrophe rückt und sich in zahlreichen blutigen Zwischenfällen schon in der Gegenwart ankündigt. Und dieses Bewußtsein - das zugleich alle Widersprüche der sozialdemokratischen Politik ausdrückt - kann bei richtiger Einheitsfrontpolitik zum Ausgang einer wirklichen Aktionseinheit der Lohnabhängigen und einer tatsächlichen, schlagartigen Änderung der gesellschaftspolitischen Kräfteverhältnisse werden, die nicht nur zum Sieg über den Faschismus, sondern auch zum Sieg über den Kapitalismus (und außerdem zum Sieg über die sozialdemokratische Politik der Zusammenarbeit der Klassen und der Versöhnung) führen könnte. 

Dieselbe Verkennung der spezifischen Besonderheit des Faschismus finden wir in einer Reihe theoretischer Versuche von Autoren, die zwischen Marxismus und vulgärem Sozialreformismus stehen. So sieht Max Horkheimer im Faschismus »die modernste Form der monopolkapitalistischen Gesellschaft«. Eine ähnliche Konzeption vertrat auch Paul Sering (Richard Löwenthal) mit der These, Nationalsozialismus sei »Planimperialismus«(35). Beide Meinungen knüpfen offensichtlich an die Hilferdingsche These von der Kongruenz zwischen der politischen Machtzentralisation im bürgerlichen Staat und der »höchsten Form der Konzentration des Kapitals« an, die jener im Finanzkapital sah. Aber so genial und historisch zutreffend die skizzierte Voraussage - trotz der implizierten Vereinfachung - im Jahre1907 auch war, so unzutreffend wird sie in den Jahren unmittelbar vor und nach der Hitlerschen Machtergreifung. Man kann den Faschismus nicht begreifen, wenn man von zwei entscheidenden Momenten der Analyse abstrahiert: daß die höchste Form der Zentralisation des bürgerlichen Staates nur durch die politische Selbstentmachtung des Bürgertums erreicht werden kann(36), und daß es sich nicht um die »modernste Form der monopolkapitalistischen Gesellschaft«, sondern um den Ausdruck der schärfsten Form der Krise dieser Gesellschaft handelt(37).

In seinem Buch »Der Faschismus - Seine Entstehung und seine Entwicklung« versucht Ignazio Silone nicht ohne Erfolg, den Faschismus als das Ergebnis der tiefen Strukturkrise der italienischen bürgerlichen Gesellschaft und der gleichzeitigen Unfähigkeit der italienischen Arbeiterbewegung darzustellen, diese Krise durch eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft zu lösen(38). Auch hat er richtig den Unterschied zwischen Faschismus und »klassischer« Militärdiktatur oder Bonapartismus erkannt(39). Seine Definition der »politischen Unreife« der Arbeiterbewegung bleibt jedoch an der Schwelle des zu lösenden Problems stehen. Welcher Faktor hindert diese Arbeiterbewegung, als Vertreterin sämtlicher ausgebeuteten Schichten der Nation aufzutreten, breite Schichten des Kleinbürgertums zu neutralisieren oder für sich zu gewinnen und den Kampf um die Macht auf die Tagesordnung zu setzen? Es. ist kein Zufall, daß der Begriff »sozialistische Revolution« in Silones Buch kaum vorkommt und daß er wenig Verständnis dafür zeigt, daß die Lösung der von ihm selbst geschilderten, komplexen Aufgabe einen strategischen Plan erfordert, der nur durch eine dazu geschaffene, revolutionäre Partei gelöst werden kann. So richtig seine Kritik an den italienischen Reformisten, Maximalisten und den unreifen ultralinken und fatalistischen Tendenzen der jungen italienischen KP auch sein mag, sie führt zu keiner Alternativlösung und läßt den Eindruck entstehen, »politische Reife« und Fähigkeit zur politischen Führung seien entweder das Ergebnis eines biologischen Zufalls (»In Rußland gab es Lenin«) oder eine mystische Angelegenheit. Es ist verständlich, daß Silone nicht lange an diesen typischen Übergangspositionen festhalten konnte; er entwickelte sich rasch zum Reformisten zurück. 

Die beiden wichtigsten Beiträge zur Faschismustheorie, die neben dem Trotzkis in den zwanziger und dreißiger Jahren von marxistischer Seite geleistet wurden, waren die von August Thalheimer und Otto Bauer(40). August Thalheimers Faschismusanalyse kommt der Trotzkis am nächsten. Durch zu enge Anlehnung an die Marxsche Analyse des Bonapartismus des 19. Jahrhunderts und Überbetonung der »graduellen Faschisierung« unterschätzt er aber den qualitativen Unterschied zwischen Bonapartismus und Faschismus (Verselbständigung des Staatsapparats mit »traditioneller« Repression der revolutionären Bewegung versus Verselbständigung des Staatsapparats mit Zertrümmerung aller Arbeiterorganisationen und Versuch einer vollständigen Atomisierung der Lohnabhängigen). Ferner reduziert er das Faschismusproblem auf die gesellschaftspolitischen Kräfteverhältnisse - die Arbeiterschaft ist noch nicht fähig, die politische Herrschaft auszuüben; das Großbürgertum ist dazu selbst nicht mehr fähig -, ohne den Zusammenhang der Entwicklung dieser Kräfteverhältnisse mit der Strukturkrise des Spätkapitalismus zu durchleuchten(41).Trotzkis Faschismustheorie vereint dagegen die widerspruchsvollen Momente zu einer dialektischen Einheit, indem sie einerseits die Triebkräfte aufzeigt, die in einer Situation der strukturellen Krise des Kapitalismus die Arbeiterschaft zur Eroberung und Ausübung der politischen Herrschaft befähigen könnten in dieser Frage war die Thalheimersche Verwechslung der objektiv-historisch bedingten Unreife der französischen Arbeiterklasse in den Jahren 1848 bis 1850 mit der nur subjektiven Unreife der deutschen Arbeiterklasse in den Jahren 1918 bis 1933, die gerade im Widerspruch zur objektiven Möglichkeit steht, besonders verhängnisvoll -, andrerseits den funktionellen Charakter der »Verselbständigung« des Staatsapparates unter dem Faschismus hervorhebt, die ja gerade durch die Verhinderung jeglichen organisierten Klassenwiderstands des Proletariats die Verwertungsbedingungen des Kapitals radikal zugunsten des Großbürgertums ändert und dadurch die Strukturkrise zeitweilig - bis zur nächsten Explosion - lösen soll. 

Otto Bauer sieht im Faschismus eine Verbindung dreier Momente: der Deklassierung von Teilen des Kleinbürgertums durch den Krieg; der Verelendung weiterer Teile des Kleinbürgertums durch die Wirtschaftskrise, die zu deren Bruch mit der bürgerlichen Demokratie führt; schließlich des Interesses des Großkapitals an vermehrter Ausbeutung der Arbeitskraft, wozu der Widerstand der Arbeiterklasse und der Arbeiterorganisationen notwendigerweise gebrochen werden muß(42). Richtig erkennt er auch, daß »der Faschismus nicht in einem Augenblick gesiegt (hat), in dem die Bourgeoisie von der proletarischen Revolution bedroht gewesen wäre. Er hat gesiegt, als das Proletariat schon längst geschwächt und in die Defensive gedrängt, die revolutionäre Flut schon abgeebbt war. Die Kapitalistenklasse und der Großgrundbesitz haben die Staatsmacht den faschistischen Gewalthaufen nicht Überantwortet, um sich vor einer drohenden proletarischen Revolution zu schützen, sondern um die Löhne zu drücken, die sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse zu zerstören, die Gewerkschaften und die politischen Machtpositionen der Arbeiterklasse zu zertrümmern; nicht also, um einen revolutionären Sozialismus zu unterdrücken, sondern um die Errungenschaften des reformistischen Sozialismus zu zerschlagen«(43). 

So sehr diese Analyse dem unsinnigen Nachplappern der faschistischen These, der Faschismus stelle nur eine Antwort auf die »bolschewistische Gefahr« dar, durch die Vulgärreformisten überlegen ist, so leidet sie doch fatal an der Unterschätzung der tiefen Strukturkrise, die den Kapitalismus in den Jahren 1918 bis 1927 in Italien und in den Jahren 1929 bis 1933 in Deutschland erschütterte, die diese Gesellschaftsordnung schwächte und nicht stärkte, dadurch aber zugleich die objektiven Möglichkeiten einer Machteroberung durch die Arbeiterklasse verbesserte. Die mechanische Trennung von »Defensive« und »Offensive« - wie Otto Bauer sieht auch Thalheimer den Sieg des Faschismus als logischen Ausgang der nach Niederschlagung der Ansätze der proletarischen Revolution von 1918 bis 1921 sich immer weiter ausdehnenden Konterrevolution, ohne zu erkennen, daß die 15 Jahre von 1918 bis 1933 durch ein periodisches An‑ und Abschwellen der revolutionären Möglichkeiten und keineswegs durch einen geradlinigen Abstieg gekennzeichnet waren - führt lediglich dazu, diesen Zusammenhang zu verschleiern.

Und die unvollständige Analyse führt ihrerseits zu schwer wiegenden taktischen Fehlern. Da man sich in einer »defensiven Phase« befand, glaubte der »revolutionäre Sozialist« Otto Bauer, sich darauf beschränken zu müssen, »Gewehr bei Fuß« abzuwarten, bis die kleriko-faschistische Reaktion die Arbeiterorganisationen angriff; dann - aber nur dann - würde man sich mit allen Mitteln, inklusive Waffen, verteidigen. Dies führte zum heroischen Schutzbundkampf vom Februar 1934, der gewiß der kampflosen Kapitulation der SPD und der KPD vor dem Naziregime haushoch überlegen war, doch genau wie diese zur Niederlage führen mußte. Denn nur wenn die Arbeiterbewegung die ganze Tiefe der Strukturkrise erkennt, offen ausspricht, daß sie diese Krise nur mit ihren eigenen Mitteln lösen will und deshalb den Kampf um die Eroberung der Macht als ein Nahziel anvisiert, kann es ihr gelingen, die am status quo (und auch an der bloßen »Verteidigung« der Arbeiterorganisationen) nicht mehr interessierten Mittelschichten und die schwankenden Teile der Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen. 

Ein so scharfsinniger Historiker wie Arthur Rosenberg beschließt seine Geschichte der Weimarer Republik im Jahre 1930 mit den Worten: »1930 ging die bürgerliche Republik in Deutschland zugrunde, weil ihr Schicksal den Händen des Bürgertums anvertraut war und weil die Arbeiterschaft nicht mehr stark genug war, um die Republik zu retten«(41). Daß - sofern die Führung der Arbeiterschaft nicht versagte - noch fast drei Jahre Zeit blieben, um durch aktiven Kampf der Arbeiterschaft zwar nicht die bürgerliche Demokratie zu retten, aber das, was von demokratischen Elementen sich zu erhalten lohnt, in den Sozialismus hinüberzuretten, entging der fatalistischen Geschichtsschreibung Rosenbergs. 

V 

Wir haben Trotzkis Faschismustheorie mit anderen Versuchen zur Erklärung des Faschismusphänomens verglichen und ihre eindeutige Überlegenheit erkannt, die u.a. aus der Fähigkeit zur Integration einer Vielzahl von Teilaspekten in eine dialektische Einheit entspringt. Wir verfügen heute über eine bedeutende Anzahl empirischer Daten, die Trotzki und anderen marxistischen Autoren der Periode unmittelbar vor und nach der Machtergreifung durch die NSDAP unbekannt waren. Was können diese Daten bezüglich einiger der entscheidenden, strittigen Punkte der Faschismustheorie aussagen? 

Am eindeutigsten bleibt das Zeugnis über die wirtschaftliche und gesamtpolitische Funktion der faschistischen Diktatur. Durch Zerschlagung der organisierten Arbeiterbewegung gelang es Hitler, einen für die kapitalistischen Unternehmer geradezu mirakulösen Lohnstop zu erzielen. Die Stundenlöhne wurden auf der Basis der Wirtschaftskrise eingefroren; das Verschwinden der Massenerwerbslosigkeit führte zu keiner bedeutsamen Erhöhung der Lohnsätze. Gleiche Löhne zahlen zu können, wenn es 5 Millionen Erwerbslose gibt, und gleiche Löhne zu zahlen, wenn es keine Erwerbslosen gibt - das war dem Kapital in seiner gesamten Geschichte noch nie gelungen. 

Für qualifizierte Arbeiter sank der Durchschnittsstundenlohn von 95,5 Pfennigen im Jahre 1928 auf 70,5 Pfennige im Jahre 1933 und stieg dann auf 78,3 Pfennige im Jahre 1936, 79,0 Pfennige im Jahre 1940 und 80,8 Pfennige im Oktober 1942(45). Diese Zahlen beziehen sich auf den durchschnittlichen Tariflohn in 17 Industriezweigen. Andere Quellen zitieren etwas höhere Zahlen der durchschnittlichen Tariflöhne gelernter Arbeiter in der Gesamtwirtschaft des Deutschen Reiches; diese sollen vom Januar 1933 bis 1937 weiter gefallen sein, von 79,2 Pfennigen auf 78,5 Pfennige, um dann langsam auf 79,2 Pfennige im Jahre 1939, 80 Pfennige im Dezember 1941 und 81 Pfennige im Oktober 1943 zu Steigen(46). Aber auch diese Zahlen bestätigen eindeutig das Bild von Tariflöhnen, die weit unter dem Vorkrisenniveau blieben - bei gewaltigem Arbeitskräftemangel fürwahr eine »großartige« Leistung des NS‑Regimes! Zusammenfassend stellt Neumann fest, daß sich die Verteilung des deutschen Nationaleinkommens zwischen 1932 und 1938 scharf zugunsten des Kapitals verändert hat: der Anteil des Kapitals (Kapitaleinkommen, Industrie- und Handelsprofit sowie unverteilte Gewinne der Industrie) stieg von 17,4% des Volkseinkommens im Jahre 1932 (und 21% im Jahre 1929) auf 25,2% im Jahre 1937 und 26,6% im Jahre 1938(47). Es sollte sich angesichts dieser Daten eigentlich erübrigen, überhaupt noch über die Klassennatur des faschistischen Staates diskutieren zu müssen. 

Unmittelbar nach diesen grundlegenden Fragen der wirtschaftlichen Funktion des Faschismus sollte seine Auswirkung auf Akkumulation und Konzentration des Kapitals erwähnt werden. Auch auf diesem Gebiet verfügen wir heute über ein umfassendes Tatsachenmaterial, das die marxistischen Thesen voll und ganz bestätigt. Das Gesamtkapital aller deutschen Aktiengesellschaften stieg von 18,75 Milliarden RM im Jahre 1938 (20,6 Milliarden RM im Jahre 1933) auf mehr als 29 Milliarden RM zu Ende des Jahres 1942; gleichzeitig fiel jedoch die Zahl der Aktiengesellschaften von 5518 im Jahre 1938 auf 5404 im Jahre 1942; und sie war bereits vorher von 10437 im Jahre 1931 und 9148 im Jahre 1933 auf beinahe die Hälfte dieser Zahl im Jahre 1938 zurückgegangen. Der Anteil der Größtkonzerne mit einem Kapital von mehr als 20 Milliarden RM an diesem Gesamtkapital stieg von 51,4% im Jahre 1933 auf 53,5% im Jahre 1939 und 63,9% im Jahre 1942(48). 

Der Staat begünstigte diese Konzentration des Kapitals durch die verschiedensten Mittel. Zwangskartellierungen, Zusammenschlüsse unter »Wehrwirtschaftsführern«, Organisation von »Reichsvereinigungen« und »Gauwirtschaftskammern« führten zur höchsten Form von Fusion zwischen Monopolkapital und faschistischem Staat. Die Reichsvereinigung Eisen und Stahl wurde vom Großkapitalisten Röchling geführt; die Reichsvereinigung Kunstfasern von Dr. Vits von den Vereinigten Glanzstoffwerken. Dasselbe galt für die »Reichsgruppen« und »Hauptlausschüsse«. An der Spitze von 8 (von insgesamt 15) dieser Ausschüsse standen Direktvertreter der Großkonzerne (Mannesmann, August Thyssen Hütte, Deutsche Waffen- und Munitionsfabriken, Henschel-Flugzeugwerke, Auto-Union, Siemens, Weiss & Freytag und Hommelwerke)(41). 

Gerade auf Grund dieser einwandfrei feststellbaren Entwicklung, die nicht nur dem demagogischen Programm der Nazis, sondern auch ihrem »politischen Sonderinteresse« (der Konservierung einer breiten Massenbasis in Mittelstand, Kleinbürgertum und Kleinbetrieb) direkt widersprach, ist unverständlich, wie Tim Mason zu dem Schluß kommen kann, der industrielle Machtblock habe sich im faschistischen Deutschland nach 1936 »zersetzt« die wirtschaftspolitische Macht der Industrie sei »zersplittert«, »übrig blieben allein die primitivsten (!), kurzfristigsten Interessen einer jeden Firma«; »das kollektive Interesse die kapitalistischen Wirtschaftssystems löste sich 1936 bis 1939 schrittweise in eine reine Anhäufung von Firmenegoismen auf«(50). Mason vertritt die naiv-formale Ansicht, das »kollektive Interesse des kapitalistischen Wirtschaftssystems« sei hauptsächlich durch Unternehmerverbände vertreten, während diese ja wie bekannt im Zeitalter des Monopolkapitalismus, und schon ganz besonders des Spätkapitalismus, im allgemeinen nur versuchen, die Interessen der Masse der Mittel- und Kleinunternehmer mit jenen der Großkonzerne zu versöhnen oder sie gegen diese recht und schlecht zu verteidigen. Monopolkapitalismus ist nicht »Auflösung« des Systems in »eine reine Anhäufung von Firmenegoismen«, sondern immer zunehmende Identifizierung des Systems mit den Firmenegoismen von einigen Dutzend Großkonzernen, auch auf Kosten der Masse der Klein- und Mittelbetriebe. Und das ist ja gerade im faschistischen Deutschland in einem vorher wie nachher noch nicht wiederholten Ausmaß geschehen. 

Ein ausgezeichnetes Indiz für die tatsächlichen Kräfteverhältnisse zwischen Monopolkapitalisten und Partei- und Staatsbürokratie bietet die Bestimmung von Preis- und Gewinnmargen in der Rüstungsindustrie sowie das Verhältnis zwischen privatem und verstaatlichtem Sektor der Wirtschaft. Die grundlegende Tendenz war dabei nicht die der Verstaatlichung, sondern die der Reprivatisierung(51), nicht der Primat irgendeiner »politischen Führung«, sondern der Primat der Surplusprofite der Großkonzerne(52). 

Inmitten des Krieges, als man von Fanatikern der »totalen Kriegsführung« völlige Rücksichtslosigkeit gegenüber irgendwelchen Privatinteressen hätte erwarten können, ereigneten sich zwei Zwischenfälle im Zusammenhang mit dem Flick-Konzern, die an Deutlichkeit hinsichtlich der vorherrschenden Produktionsverhältnisse nichts zu wünschen übrig lassen. Am 4. Mai 1940 verhandelte dieser Konzern mit einem staatlichen Beauftragten über die Herstellung von Panzergranaten. Ministerialbeamte hatten berechnet, daß - unter Einbeziehung eines »gerechten Profits« - Flick pro Granate 24.‑ RM erhalten sollte. Der Konzern forderte jedoch 39,25 RM pro Granate. Man einigte sich schließlich auf 37.‑ RM: ein Extragewinn von 13 RM pro Granate, d.h. mehr als 35% oder über eine Million RM Extragewinne für alle bis Ende 1943 fabrizierten Granaten. Man sieht, daß der Unterschied zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg nicht so bedeutend ist: in beiden Fällen glaubten die Landser, für das Vaterland zu sterben, und in beiden Fällen starben sie für Extraprofite der Konzernherren. 

Noch »schöner« ist das zweite Beispiel: Die Wehrmacht hatte verschiedene eigene Betriebe mit dem Kapital der öffentlichen Hand errichtet. Diese Betriebe wurden meist gegen eine staatliche Gewinnbeteiligung von 30 bis 35% an die Konzerne verpachtet. Im Jahre 1942 drängte der Flick-Konzern auf Übernahme der Maschinenfabrik Donauwörth-GmbH. Am 31. März betrug ihr Anschaffungswert 9,8 Millionen, der Buchwert jedoch nur 3,6 Millionen. Der Konzern erhielt das mit modernsten Maschinen ausgerüstete Werk für den Buchpreis. Klaus Drobisch schätzt den Profit in diesem Fall auf mehr als 8 Millionen RM(51). 

Hier entdeckt man, wenn die politische Hülle abgedeckt wird, den realen Kern der Klassenherrschaft. Hätte der Nazistaat systematisch Munitionsbetriebe verstaatlicht, hätte er die Gewinnspannen auf 5 oder 6% herabgesetzt, hätte er darauf bestanden, daß z.B. mehr als die Hälfte der Mitglieder der Aufsichtsräte der für den Krieg arbeitenden Konzerne aus direkten Staats- und Wehrmachtsvertretern bestehen sollten - alles Forderungen die man berechtigterweise aus den Bedürfnissen einer wirksameren Kriegsführung hätte ableiten können -, dann wäre die Frage nach dem Klassencharakter dieses Staates wenigstens zum Teil berechtigt gewesen. Die Daten jedoch zeigen eindeutig ein umgekehrtes Bild: brutale Unterordnung aller Interessen unter jene der Großkonzerne. Auch die im Interesse dieser Konzerne durchgeführte, barbarische Kriegsführung mußte dort Halt machen, wo es um das A und O der Kapitalakkumulation ging. 

Empirische Daten sprechen auch eine deutliche Sprache in bezug auf die Etappen, die vom Durchbruch der Hitler-Bewegung in den Reichstagswahlen des Jahres 1930 zur Machtergreifung vom 30. Januar 1933 geführt haben. Wir wissen, wie eine massive Finanzierung der Nazis durch bestimmte - noch recht begrenzte - Kreise des Großkapitals einsetzte, welches Zögern und welche Meinungsverschiedenheiten es in den Kreisen des Großkapitals und der Großgrundbesitzer in ihrer Haltung gegenüber Hitler und der NSDAP gab, wie dieses Zögern u.a. durch das va-banque-Spiel des Diktator-Kandidaten gesteigert, aber durch die Passivität und Ratlosigkeit der Arbeiterbewegung gemindert wurde; wie sich das von der Großindustrie bereits im Jahre 1931 aufgestellte, in Richtung auf einen autoritären Staat, massiven Lohnabbau und eine Revision des Versailler Vertrages um jeden Preis zielende Programm(54) mit dem Machtantritt Hitlers verknüpfte, als der zukünftige Führer seinen linksplebejischen Flügel zur Seite schob und den Konzernherren alle erforderlichen Garantien zur Verteidigung des Privateigentums und der Anwendung des »Führerprinzips« auf die Betriebe - u.a. in seiner Rede im Industrieklub vom 27. Januar 1932 - lieferte; wie sich die Allianz von Großindustrie und NSDAP krisenhaft, u.a. über den Umweg der Wahlniederlage der NSDAP im November 1932 und der großen Geldnot, die darauf folgte, herstellte, und wie schließlich nach dem Osthilfeskandal die Zusammenkunft vom 4. Januar 1933 bei Baron von Schröder in Köln das Schicks der Weimarer Republik besiegelte(55). Wenn wir Trotzkis Analyse in den Jahren 1930 bis 1933 verfolgen, so können wir nur feststellen, daß das heute vorhandene Material diese Analyse in allen Punkten bestätigt. 

Somit bleibt ein letzter und nicht unbedeutender Faktor. Wie stand es um die Möglichkeit, den Aufmarsch des Nationalsozialismus durch eine Aktionseinheit der Arbeiterklasse aufzuhalten? Wie stand es um die Möglichkeit dieser Aktionseinheit selbst? Obwohl hier das Material natürlicherweise fragmentarischer ist als auf dem Gebiet der Wirtschaftsverfassung oder der Haltung einer kleinen Gruppe von Konzernherren, so muß doch die Fülle der Zeugnisse beeindrucken, die andeuten, daß sowohl unter sozialdemokratischen wie unter kommunistischen Arbeitern und unteren Funktionären der Wunsch nach einer gemeinsamen Aktion gegen Hitler sehr groß war. Reminiszenzen flammen aus der Masse der Memoirenliteratur auf - wie das Reichsbanner seine Stafetten zur »Führung« schickte - dieses Wort wurde wohl nie so verdinglicht gebraucht wie in diesem Zusammenhang! -, um zum Kampf aufzufordern, und die irrsinnige Antwort erhielt, man dürfe kein Arbeiterblut vergießen (als ob Hitlers Sieg Arbeiterblut nicht in Strömen hätte fließen lassen, wie Trotzki es voraussagte); wie sich die lokalen Ansätze, noch in letzter Stunde zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten eine gemeinsame Kampflinie zu finden, mehrten; wie ohnmächtig die Führungen von der Machtergreifung zum Reichstagsbrand und von dieser Provokation zum Ermächtigungsgesetz taumelten, ohne auch nur den geringsten strategischen Plan zur Abwehr und zur Selbstverteidigung der Arbeiterbewegung zu verfolgen(56). Diese gespensterhaft wirkende, oft von schlechtem Gewissen durchdrungene Literatur liest sich wie eine bittere Anklage gegen die damalige SPD-, KPD- und ADGB-Führung, auch wenn sie im Zeichen der Selbstrechtfertigung verfaßt wurde. Nie zuvor in der modernen Geschichte haben so Viele für die Fehler so Weniger so teuer zahlen müssen. 

VI

Trotzkis Faschismustheorie ist jedoch nicht nur ein unerbittliches Anklagedokument im Rahmen der Vergangenheit. Auf die Gegenwart und Zukunft schauend ist sie eine Warnung vor neuen theoretischen Fehlern und vor neuen Gefahren. 

Das Spezifische des Faschismus kann nur im Rahmen des imperialistischen Monopolkapitalismus erfaßt werden. Es ist absurd, irgendwelche autoritären Bewegungen in halbkolonialen Ländern »faschistisch« zu nennen, nur weil sie einem Führer Gefolgschaft schwören oder ihre Anhänger in eine Uniform stecken. Ist in einem Land der wichtigste Teil des Kapitals in ausländischem Besitz, und ist das Geschick der Nation durch diese Herrschaft des ausländischen Imperialismus bestimmt, so kann keine Rede davon sein, eine Bewegung der nationalen Bourgeoisie, die sich von dieser Beherrschung im eigenen Interesse zu befreien sucht, faschistisch zu nennen. Sie kann mit dem Faschismus einige oberflächliche Merkmale gemeinsam haben: den extremen Nationalismus, den Führerkult, manchmal sogar auch den Antisemitismus. Wie der Faschismus mag sie ihre Massenbasis im deklassierten und verarmten Kleinbürgertum finden. Aber der entscheidende sozial- und wirtschaftspolitische Unterschied zum Faschismus tritt sofort zutage, wenn man ihre Haltung gegenüber den beiden entscheidenden Klassen der modernen Gesellschaft untersucht: dem Großkapital und der Arbeiterklasse. 

Der Faschismus konsolidiert die Herrschaft des ersteren und verschafft ihm wirtschaftlich höchste Gewinne; er atomisiert die Arbeiterklasse und zerschlägt ihre Organisationen. Dagegen werden die fälschlich als faschistisch verketzerten nationalistischen Bewegungen der nationalen Bourgeoisie halbkolonialer Länder dem - vorwiegend ausländischen - Großkapital manch ernste und dauerhafte Schläge zufügen und der Arbeiterschaft neue Organisationsmöglichkeiten schaffen. Das beste Beispiel dafür ist die peronistische Bewegung Argentiniens, die, weit davon entfernt, die Arbeiterklasse zu atomisieren, zum ersten Mal allgemeine Massengewerkschaften der Fabrikarbeiterschaft zum Durchbruch kommen ließ, die bis zum heutigen Tage das Geschick des Landes bedeutend beeinflußt haben. 

Gewiß ist die Manövrierfähigkeit dieser sogenannten »nationalen Bourgeoisie« zwischen ausländischem Imperialismus und einheimischer Massenbewegung historisch-gesellschaftlich beschränkt, und sie wird dauernd zwischen diesen beiden Hauptpolen hin und her schwanken. Gewiß wird sie ihr Klasseninteresse letzten Endes zu einem Bündnis mit dem Imperialismus führen, den sie ja durch Massendruck nur um einen höheren Anteil am Gesamtwert erpressen will, während ein zu starker Aufschwung der Massenbewegung ihre Klassenherrschaft selbst bedroht. Gewiß kann sich eine solche Wendung gegen die Massen in blutiger, faschismusartiger Repression äußern, wie etwa diejenige der indonesischen Generäle nach dem Oktober 1965. Der grundsätzliche Unterschied zwischen beiden Prozessen - hier Faschismus in den imperialistischen Metropolen, dort schlimmstenfalls zeitweilige Militärdiktaturen in halbkolonialen Ländern der Dritten Welt - sollte aber so deutlich erkannt werden, daß sich jede Begriffsverwirrung vermeiden läßt. 

Im selben Sinne sollte man es auch vermeiden, die heute im Westen immer deutlicher zutage tretende Tendenz zum »starken Staat« mit einer Tendenz zur »schleichenden« oder sogar zur »offenen Faschisierung« zu verwechseln. Die Ausgangsbasis des Faschismus ist, wie immer wieder unterstrichen werden muß, ein desperates und verarmtes Kleinbürgertum. Nach einem zwanzigjährigen »langen Zyklus mit expansivern Grundton« gibt es ein solches desperates Kleinbürgertum in kaum einem bedeutenden imperialistischen Lande des Westens. Höchstens marginale Schichten des Bauerntums sind von einer Verarmungstendenz betroffen, aber auch diese Schichten, denen keinerlei bedeutendes Gewicht in der Gesamtbevölkerung zukommt, fanden bisher relativ leicht einen neuen Arbeitsplatz in Handel, Dienstleistungsgewerbe oder Industrie. Es vollzieht sich hier der umgekehrte Prozeß wie in den Jahren 1918 bis 1933. Damals wurden die Mittelschichten pauperisiert, aber nicht proletarisiert; heute werden sie proletarisiert, doch nicht pauperisiert.

Unter Bedingungen eines vorwiegend wohlhabenden und konservativen Kleinbürgertums fehlt einem Neofaschismus jede objektive Möglichkeit, sich eine breite Massenbasis zu erobern. Satte Besitzbürger schlagen sich nicht mit revolutionären Arbeitern oder radikalen Studenten auf der Straße. Sie ziehen es vor, an die Polizei zu appellieren und ihr bessere Waffen zur »Bekämpfung von Unruhen« zu verschaffen. Und darin liegt gerade der Unterschied zwischen dem Massen desperater Kleinbürger organisierenden und mit ihnen ganze Industriereviere und Großstädte terrorisierenden Faschismus und dem autoritären »starken Staat«, der wohl Gewalt und Repression einsetzen und der Arbeiterbewegung oder radikalen Gruppen schwere Schläge versetzen kann, der jedoch unfähig ist, die Arbeiterorganisationen zu vernichten und die Arbeiterklasse zu atomisieren. Ein auch nur oberflächlicher Vergleich zwischen der Entwicklung in Deutschland nach. 1933 und jener in Frankreich nach der Errichtung des »starken Staates« im Jahre 1958 läßt diesen Unterschied besonders deutlich erkennen. In Spanien kann der Vergleich zwischen der faschistischen Diktatur in den Jahren 1939 bis 1945 und dem dekadenten »starken Staat« von heute, der trotz zuweilen schärfster Repression durch den Polizei- und Militärapparat völlig unfähig ist, eine aufsteigende Massenbewegung zu unterdrücken, nur zu demselben Schluß führen. 

Damit eine neue, unmittelbare Gefahr des Faschismus in den imperialistischen Staaten des Westens aufkommen könnte, müßte sich die Wirtschaftsentwicklung entscheidend ändern. Dies ist für die Zukunft keineswegs ausgeschlossen, ja sogar wahrscheinlich. Aber solange dies nicht der Fall ist, sollte man, statt sich von einer noch nicht vorhandenen Gefahr faszinieren zu lassen, weniger über Neofaschismus schreien und dem systematischen Kampf gegen die sehr konkrete und reale Tendenz des Großbürgertums zum »starken Staat«, d.h. zur systematischen Einengung der demokratischen Rechte der Lohnabhängigen (über Notstandsgesetze, Antistreikgesetze, »Konzertierte Aktionen« mit der Zwangsjacke von Orientierungsdaten«, Geld- und Freiheitsstrafen für »wilde Streiks«, Begrenzung des Demonstrationsrechts, staatliche und kapitalistische Manipulation der Massenmedien, Wiedereinführung der Vorbeugehaft usw.) mehr Aufmerksamkeit schenken. Das Körnchen Wahrheit, das in der These der »schleichenden Faschisierung« steckt, bezieht sich auf die Gefahr, daß durch eine passive und entpolitisierte Hinnahme dieser Anschläge auf demokratische Elementarrechte der Appetit der Herrschenden auf schwerere Angriffe nur gereizt werden kann. Läßt sich die Arbeiterbewegung widerstandslos am Gängelband ziehen und schrittweise entmachten, dann könnte bei der ersten scharfen Wende der Wirtschaftslage dem ersten Abenteurer der Einfall kommen, sie wiederum radikal zu zerschlagen. Der nicht in zähem Kleinkrieg jahrelang vorbereitete Widerstand wird bestimmt nicht »in letzter Stunde« wie ein Wunder vom Himmel fallen. 

Aber gerade weil heute die Hauptaufgabe nicht im Kampf gegen einen noch beinahe ohnmächtigen Neofaschismus, sondern im Kampf gegen den sehr bedrohlichen »starken Staat« liegt, wäre es unangebracht, Begriffsverwirrungen einzuführen. Wenn man diese ersten Scharmützel bereits für den Anfang der Entscheidungsschlacht erklärt und den Eindruck entstehen läßt, der Faschismus (ob »schleichend« oder »offen«) sei mit der immerhin noch ziemlich harmlos wirkenden Pariser CRS oder den Westberliner Polizeischlägern identisch, schläfert man die Wachsamkeit der Massen vor der entsetzlichen Gefahr, die ein mit der viel weiter fortgeschrittenen Technik bewaffneter Faschismus heute darstellen würde, ein und begeht denselben, verhängnisvollen Fehler der KPD-Führer von 1930 bis 1933, die nacheinander Brüning, Papen, Schleicher und Hugenberg als Verkörperung des Faschismus darstellten, was wiederum die Werktätigen nur zu dein Schluß führen konnte, »das Ganze sei halb so wild«. 

Die Keime dieses potentiellen neuen Faschismus liegen in den in mehreren imperialistischen Ländern bewußt erzeugten Bazillenherden der fremdenfeindlichen und rassistischen Mentalität (gegen die Schwarzen, gegen die Farbigen, gegen die Gastarbeiter, gegen die Araber, usw.), in der wachsenden Gleichgültigkeit gegenüber politischen Morden in einem Land wie den USA(57), in den irrationalen Ressentiments gegen eine tendenziell immer stärker zutage tretende »ungünstige Entwicklung« der Weltpolitik, in einem nicht weniger irrationalen Haß gegen radikale, nonkonforme Minderheiten (»Man müßte Euch alle vergasen« wurde SDS-Demonstranten viele Male in der Bundesrepublik und Westberlin zugerufen, »Ihr gehört ins KZ« ist ein übliches Schimpfwort »ordnungsliebender Bürger« gegenüber radikalen Demonstranten in der Bundesrepublik und in den USA). Es ist eine tragische Verblendung, daß sich ein sonst kluger, liberaler Hochschullehrer wie Jürgen Habermas zur Verwendung des Schlagworts »Linksfaschismus« gegen die radikalen Studenten, d.h. gegen die ersten potentiellen Opfer eines späteren faschistischen Terrors hinreißen läßt, wo doch gestern wie heute der wirkliche Nährboden des Faschismus nicht bei nonkonformistischen Minderheiten sondern bei den »Anständig, anständig, Ehre, Treue« stotternden, gegen diese Studenten aufgebrachten Spießern zu suchen ist. 

Es ist keineswegs auszuschließen, daß im Falle einer Erschütterung der kapitalistischen Weltwirtschaft - die nicht notwendigerweise die Form einer, beim Umfang des heutigen Staatshaushaltes unwahrscheinlichen, Weltwirtschaftskrise von der Schärfe jener der Jahre 1929 bis 1933 annehmen muß - diese in ganz Westeuropa vorhandenen Keime sprunghaft neue faschistische Epidemien entstehen lassen. Aber manches deutet darauf hin, daß diese Gefahr in den USA viel stärker als in Europa vorhanden sein dürfte. Das europäische Großbürgertum hat sich schon einmal tüchtig die Finger an einem faschistischen Experiment verbrannt. In einigen Teilen des Kontinents verlor es dadurch Kopf und Kragen, in anderen konnte es nur in letzter Minute seine Klassenherrschaft retten. Es wird sich umso weniger zu einer Wiederholung des Abenteuers verleiten lassen, als auch in den Volksmassen die Erfahrung tiefe Spuren hinterlassen hat, und die plötzlich aufkommende Gefahr eines neuerlichen Faschismus zu den schärfsten Reaktionen führen muß. 

Ein günstiges Omen stellt in diesem Sinne die Entwicklung der westeuropäischen Studentenschaft dar. Diese war seit Beginn des Jahrhunderts die geistige Brutstätte des Faschismus. Aus ihr rekrutierte sich der erste Kader der faschistischen Banden. Sie stellte die organisierten Streikbrecher der zwanziger Jahre, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Großbritannien während des Generalstreiks des Jahres 1926. Lange bevor Hitler in die Reichskanzlei einzog, hatte er die Herrschaft über die Hochschulen erobert. Und als die französische Volksfront die Wahlen von 1936 gewann, beherrschten die halbfaschistischen Camelots du Roi weiterhin das Quartier Latin. 

Heute hat sich das Bild radikal gewandelt. In allen westeuropäischen Ländern geht der Haupttrend der Studenten nach links und extrem links, und nicht nach extrem rechts. Nicht Streikbrecher, sondern Streikposten werden unter den Studenten rekrutiert, und diese wenden sich an die Betriebe, nicht um den Unternehmern zu helfen, »Ruhe und Ordnung wiederherzustellen«, sondern um die Lohnabhängigen dazu zu bringen, die spätkapitalistische »Ordnung« viel radikaler in Frage zu stellen, als dies ihre traditionellen Massenorganisationen selbst tun. Es ist unwahrscheinlich, daß sich dieser Trend in den kommenden Jahren jäh ändern wird. War der Faschismus nach dem Ersten Weltkrieg vor allem ein Aufstand der Jugend, so gibt es heute kaum Anzeichen dafür, daß die Jugend irgendwo in Westeuropa in ihrer Masse durch rechtsextreme Losungen verführt werden könnte. 

Die nächste Welle in Europa wird nach links und extrem links gehen - das zeigt der Seismograph der Jugend an, die der Massenbewegung um einige Jahre vorauseilt. Und dafür waren die Maiereignisse in Frankreich 1968 nur ein Auftakt. Erst wenn diese Welle erfolglos zurückfluten würde und die Enttäuschung der jungen Generation mit einer Erschütterung der Wirtschaft zusammenfiele, hätte der Faschismus abermals gewisse Chancen. 

Auch in den USA dürfte die gleiche dialektische Bewegung zu erwarten sein, die wir seit 1918 immer wieder erlebt haben. Bei der Erschütterung der spätkapitalistischen Gesellschaft schlägt das Pendel immer erst nach links aus, und nur, wenn die Arbeiterbewegung versagt, hat die Rechte ihre Chance. Aber die amerikanische Großbourgeoisie ist weniger erfahren und deshalb brutaler als die westeuropäische, denn sie hat bisher kaum schwer unter eingegangenen Risiken gelitten, hat deshalb weniger Instinkt für die natürlichen Grenzen der va-banque-Politik, und besitzt in der unpolitischen Tradition breiter Teile der amerikanischen Bevölkerung ein Reservoir an rechtsextremem Konservatismus, der bei einem Umschlag der Wirtschaftslage und einer verpaßten Chance der radikalen Linken, das Geschick des Landes in sozialistischem Sinne umzugestalten, einem faschistischen Abenteuer größere Erfolgschancen bieten würde als in Europa. Die wachsende Gewalttätigkeit, die explosive Rassenfrage, das rücksichtslose Draufgängertum mancher imperialistischer Kreise lassen das Profil faschistoider Trends deutlicher jenseits als diesseits des Atlantiks erkennen(58). 

Die fürchterliche Gefahr, die ein solcher Faschismus nicht nur für das Fortbestehen der menschlichen Kultur, sondern für die physische Existenz der Menschheit überhaupt darstellen würde, braucht nicht näher erläutert zu werden. Man stelle sich vor, was im Jahre 1944 geschehen wäre, wenn Hitler über ein Arsenal von Kernwaffen verfügt hätte, das jenem der USA ähnlich gewesen wäre. »Rather dead than red« - »lieber tot als rot« - sagen schon heute die rechtsradikalen Anhänger der John Birch Society und der Minutemen. Wenn in der Endphase eines Verzweiflungskampfes für die Rettung »ihrer« monopolkapitalistischen Gesellschaft die in der übrigen Welt bereits besiegten Großkonzerne die politische Macht in den USA irrationalen Gewalttätern ausliefern könnten, würde dies der gesamten Menschheit zum Verhängnis werden. Zu Ende der zwanziger oder anfangs der dreißiger Jahre konnten revolutionäre Marxisten die Warnung äußern, der Kampf gegen den Faschismus, für eine sozialistische Lösung der europäischen Krise, sei ein Kampf für oder wider eine auf unserem Erdteil aufmarschierende Barbarei. In den kommenden Jahrzehnten dürfte der Kampf um ein sozialistisches Amerika einem Kampf um Leben und Tod der gesamten Menschheit gleichkommen.

Deshalb haben die scharfen Analysen und die Kassandrarufe Trotzkis so aktuelle Bedeutung. Denn so lange der Monopolkapitalismus fortbesteht, könnte dieselbe Gefahr in noch schrecklicherer Form und mit noch unmenschlicherer Barbarei wiederkehren. Wir sagten zu Beginn, man werde beim Lesen dieses Buches durch die analytische Leistung Trotzkis gefesselt. Stärker noch als diese Bewunderung ist aber beim Studium dieser Schriften das Aufwallen der Empörung und des Zorns. Wie leicht wäre es gewesen, auf Trotzkis Mahnung zu hören und das Unheil zu vermeiden. Das sollte uns die große Lehre sein: das Übel zu erkennen, um es zeitig und erfolgreich bekämpfen zu können. Die deutsche Katastrophe darf sich nicht wiederholen. Und sie wird sich nicht wiederholen. 

30. Januar 1969


Anmerkungen: 

1 Die »unbewilligte Vergangenheit« steht im Zusammenhang mit der Tatsache, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse, die die Machtergreifung des Faschismus ermöglichten, in der BRD noch immer vorhanden sind. Es ist also unmöglich, den Wurzeln der faschistischen Barbarei auf den Grund zu gehen, ohne diesen Kausalzusammenhang bloßzustellen. Und insofern die restaurierte Herrschaft des westdeutschen Kapitals eine Klassenherrschaft darstellt, ist es kaum denkbar, daß diese Entlarvung Hoch- und Mittelschulunterricht beherrschen würde. Da man die Vergangenheit nicht erschöpfend erklären kann (oder will), kann man sie auch nicht »bewältigen«. - Wolfgang Fritz Haug u.a. haben in dem Aufsatz »Ideologische Komponenten in den Theorien über den Faschismus« überzeugend nachgewiesen, wie der Versuch einer massenpsychologischen Erklärung des Faschismusphänomens dazu führt, zu behaupten, »der Anspruch der Massen auf das traditionelle Privileg der Besitzenden: Aufgeklärtheit und irdisches Glück, habe die totalitären Tendenzen entbunden«. Er kommt so richtig zu dem Schluß, daß diese apologetische Theorie »das unterdrückte Triebleben und die gesellschaftlich unterdrückten Schwächeren für die Unterdrückung verantwortlich (macht), die es so rehabilitiert« (»Das Argument«, Nr. 33, Mai 1965). Im selben Heft findet sich eine gute (unvollständige) Bibliographie zur Faschismustheorie. 

2 Vgl. die jüngsten Neuerscheinungen auf diesem Gebiet, wie Ernst Noltes mehr als 500seitiges Werk »Theorien über den Faschismus«, Köln-Berlin (Kiepenheuer & Witsch) 1967; Wolfgang Abendroth, »Faschismus und Kapitalismus«, Frankfurt (Europäische Verlagsanstalt) 1967: eine Sammlung von Texten von A. Thalheimer, O. Bauer, H. Marcuse, A. Rosenberg und Angelo Tasca über das Wesen des Faschismus; »International Fascism«, New York (Harper Torchbooks) 1966: eine Sammlung von Aufsätzen über den Faschismus; u.a.

3 Einen, guten überblick Ober die sogenannte »Totalitarismustheorie« bietet der Sammelband »Wege der Totalitarismus-Forschung«, hg. von Bruno Seidel und Siegfried Jenkner, Darmstadt (Wiss. Buchges.) 1968, vor allem die Aufsätze von Hannah Arendt, A. R. L. Gurland und Zbigniew Brzezinski. ‑ Es wäre interessant, die auf- und absteigenden Wogen der Popularität dieser Theorie im Westen mit den auf- und absteigenden Wellen des Kalten Krieges zu vergleichen. Man wäre durch die sofort sichtbare Korrelation nicht nur auf lange Sicht, sondern in eng konjunkturellem Ausmaß (etwa vom Ostberliner Mauerbau bis zur Kuba-Krise von 1962 als konjunkturellem Aufschwung) überrascht. Die in entgegengesetztem Sinne wirkende »Konvergenztheorie« wäre einer ähnlichen Untersuchung zu unterwerfen.

4 Die Auswirkungen der Hitlerschen Machtergreifung auf die Stabilisierung der Stalinherrschaft in der UdSSR und die extremsten Formen der bürokratischen Entartung dieses Staatsgebildes, die langfristigen Auswirkungen der Wechselwirkung Faschismus-Stalinismus auf die Entwicklung der westdeutschen Arbeiterbewegung und auf die Bedingungen, unter denen der Aufbau des Sozialismus nach dem Zweiten Weltkrieg in Osteuropa begonnen werden mußte, müßten in diese Bilanz mit einbezogen werden.

5 Siehe z.B. die Diskussion zwischen Tim Mason und Eberhard Czichon in den Heften Nr. 41 und 47 der Berliner Zeitschrift »Das Argument« (Dez. 1966 und Juli 1968). Leider begehen mechanistische Marxisten parallele Fehler. Wir kommen darauf im weiteren noch zurück.

6 Siehe Arthur Schweitzer, Big Business in the Third Reich, Bloomington (Indiana University Press) 1964. Tim Mason (a.a.O.) stützt sich auf dasselbe Konzept, das u.a. von Czichon, Dietrich Eichholz und Kurt Gossweiler scharf zurückgewiesen wird. Ein typisches Beispiel des bürgerlichen Versuchs, den Nazistaat als rein politisches Machtgebilde (bei völliger Unterordnung der entmachteten« Wirtschaft) hinzustellen, gibt David Schoenbaum, Die braune Revolution, Köln (Kiepenheuer u. Witsch) 1968 

7 Siehe dazu Franz Neumann, Behemoth - The Structure and Practice of National Socialism 1933‑1944, New York (Octagon Books, Inc.) 1963. 

8 Über die ökonomischen Triebkräfte des Militarismus im Zeitalter des Imperialismus bleibt das letzte Kapitel von Rosa Luxemburgs »Die Akkumulation des Kapitals« die klassische Vorstudie. Für neuere Untersuchungen, vor allem des deutschen und amerikanischen Imperialismus siehe u.a. Fred J. Cook, Juggernaut, The Warfare State, Sondernummer der amerikanischen Zeitschrift »The Nation«, 20. Oktober 1951; das 7. Kapitel des Buches von Baran-Sweezy, Monopolkapital, Frankfurt (Suhrkamp) 1967; George F. W. Hallgarten, Hitler, Reichswehr und Industrie, Frankfurt (Europäische Verlagsanstalt) 1955 und die Arbeiten von Harry Magdoff, erschienen in der Zeitschrift »Monthly Review«. 

9 Siehe u.a. Georg Thomas, Geschichte der deutschen Wehr- und Rüstungswirtschaft (1918‑1943/45). Hg. von Wolfgang Birkenfeld, Boppard a. Rh. (Boldt) 1966. 

10 Die wachsende Entakkumulierung (Zerstörung von Kapital), die eine sich steigernde Kriegswirtschaft von einem bestimmten Punkt ab mit sich bringt, haben wir mit dem Begriff »rückläufige Reproduktion« zu umschreiben versucht (siehe Ernest Mandel, Marxistische Wirtschaftstheorie, Kapitel 10, Frankfurt Suhrkamp 1968). Beispiele aus Großbritannien und vor allem Japan ergeben, daß es sich keineswegs um nur für den Faschismus typische Prozesse handelt. Der »rationale« Kern dieser Irrationalität liegt darin, daß man imperialistische (wie alle) Kriege bekanntlich mit dem Ziel führt, sie zu gewinnen, und daß die in bestimmten Grenzen berechtigte Hoffnung besteht, man könne alle Kapitalverluste auf Kosten des geschlagenen Gegners mehr als kompensieren. 

11 Ernst Nolte, a.a.O. S.38, 54, usw.; Leo Trotzki, Porträt des Nationalsozialismus (Text Nr. 48 in diesem Bande). 

12 Ernst Nolte, a.a.O. S.21. 

13 Siehe solche Versuche u.a. bei Prof. René Rémond, La Droite en France de 1815 à nos jours, Paris 1954 und Jean Plumyène und Raymond Lasierra, Les fascismes français 1923‑1963, Paris (Editions Le Seuil) 1963, die diese These für Frankreich vertreten. In dem von Walter Laqueur und George L. Mosse herausgegebenen Sammelband »International Fascism 1920‑1945« vertritt Eugen Weber eine ähnliche These (S. 105, 123 und passim). Hingegen arbeitete Daniel Guérin (»Fascism and Big Business«, New York, Pioneer Publishers) schon 1938 die grundlegend gemeinsamen Züge des deutschen und italienischen Faschismus - trotz ihrer nationalen Besonderheiten - heraus. 

14 Die der Machtergreifung und der schrittweisen Ausdehnung antisemitischer Maßnahmen Hitlers folgenden geringen Verschiebungen der Eigentumsverhältnisse im Dritten Reich sind genügender Beweis dafür, wie sehr die These des »jüdischen Großkapitals« einer Legende entspricht. Dasselbe gilt heute auch für die USA (siehe u.a. Ferdinand Lundberg, The Rich and the Super-Rich, New York (Lyle Stuart) 1968, S. 297‑306. 

15 Die ersten diesbezüglichen marxistischen Theorien stammen von Otto Bauer (»Zwischen zwei Weltkriegen?«, Bratislava (Eugen Prager Verlag) 1936, S. 136 f.) und Daniel Guérin (»Fascisme et grand capital«, Paris 1938, S. 27-49 der Ausgabe von 1945, Paris, Librairie Gallimard). 

16 Ernst Nolte, a.a.0. S. 54. 

17 Charles Bettelheim, L'économie allemande sous le nazisme, Paris (Rivière) 1946, S. 212 f. 

18 Man ist immer wieder über den eigentümlichen Gedächtnisschwund bürgerlicher Ideologen in bezug auf die jüngere Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft erstaunt. In den zwei Jahrhunderten seit der 1. industriellen Revolution wechselten die Staatsformen in Westeuropa zwischen aristokratischer Monarchie, plebiszitärem Cäsarismus, konservativ-liberalem Parlamentarismus (mit einem auf etwa 10%, manchmal sogar weniger als 5% der Bevölkerung beschränkten Wahlrecht) und ausgesprochener Autokratie, je nach dem Land, dessen politische Entwicklung man studiert. Bürgerliche Demokratie parlamentarischen Musters mit allgemeinem, gleichem Wahlrecht für alle ist praktisch überall - mit Ausnahme einer kurzen Phase während der großen französischen Revolution - ein Produkt des Kampfes der Arbeiterbewegung und nicht des liberalen Bürgertums gewesen.

19 »Ökonomische Macht bedeutet zugleich politische Macht. Die Herrschaft über die Wirtschaft gibt zugleich die Verfügung über die Machtmittel der Staatsgewalt. Je stärker die Konzentration in der wirtschaftlichen Sphäre, desto unumschränkter die Beherrschung des Staates. Diese straffe Zusammenfassung aller Machtmittel des Staates erscheint als seine höchste Machtentfaltung, der Staat als unüberwindliches Instrument der Aufrechterhaltung der ökonomischen Herrschaft... Das Finanzkapital in seiner Vollendung bedeutet die höchste Stufe ökonomischer und politischer Machtvollkommenheit in der Hand der Kapitaloligarchie. Es vollendet die Diktatur der Kapitalmagnaten«. Rudolf Hilferding, Das Finanzkapital (verfaßt im Jahre 1909). Hier zitiert nach der Ausgabe von 1923, Wien (Verlag der Wiener Volksbuchhandlung) S. 476 f. 

20 Dies führte Hilferding am Ende seines Lebens und am Vorabend seines tragischen Todes zu dem Trugschluß, Nazi-Deutschland sei keine kapitalistische Gesellschaft mehr, sondern die Macht gehört dort einer totalitären Bürokratie, einem Trugschluß, der zeitlich mit der Burnhamschen These vom »Manager-Zeitalter« zusammenfällt.

21 Es handelt sich jedoch immer um eine bestimmte Form von Demagogie, die nur bestimmte Formen des Kapitalismus angreift (»Zinsknechtschaft«, Warenhäuser, »raffendes« im Gegensatz zum »schaffenden« Kapital usw.); Privateigentum als solches oder Unternehmerherrschaft im Betrieb werden nie in Frage gestellt. 

22 Ist dies nicht der Fall und behalten die Werktätigen ihre Kampfkraft und      ihren Kampfwillen, so kann der Versuch einer faschistischen Machtergrei            fung zum Auftakt eines großartigen revolutionären Aufschwungs werden. In Spanien wurde der faschistische Militärputsch im Juli 1936 mit einem revolutionären Aufstand der Arbeiterschaft beantwortet, der in wenigen             Tagen den Faschisten in sämtlichen Großstädten und Industrierevieren          eine vernichtende militärische Niederlage zufügte und sie zum Rückzug in die unterentwickelten Agrargebiete des Landes zwang. Die Tatsache, dass die Faschisten von dort aus - in mühsamem, beinahe drei Jahre dauernden             Bürgerkrieg - die Macht schließlich doch erobern konnten, erklärt sich so  , wohl aus der Einwirkung internationaler Faktoren, wie aus der verhängnisvollen Rolle der Partei- und Staatsführung der Linken, die die Werktätigen daran hinderte, die erfolgreich begonnene sozialistische Revolution             vom Juli 1936 rasch zu beenden und, u.a. durch radikale Bodenverteilung und Proklamation der Selbständigkeit Marokkos, Francos letzte Machtbasis             unter rückständigen Bauern und nordafrikanischen Söldnern zu zersetzen.

23 Siehe dazu u.a. Daniel Guérin, a.a.O., S. 141‑168. 

24 Auf den Unterschied von Bonapartismus und Faschismus wird weiter unten noch eingegangen.

25 Schon im »Kommunistischen Manifest« machen sich Marx und Engels über das liberale Argument lustig, die Kommunisten gössen nur Wasser auf die Mühlen der konservativen Reaktion. In der Revolution von 1848 wurde es unendlich oft wiederholt: wenn nur die bösen »Sozialisten« nicht gewesen wären, dann hätte sich das liberal-konstitutionelle Regime überall konsolidiert. Die Sozialisten jedoch hätten den Bürger verängstigt und in die Arme der Reaktion zurückgetrieben. In der großen französischen Revolution benutzten die Konservativen ihrerseits ein ähnliches Argument gegen die Liberalen: ohne die Exzesse des Konvents und der »linksradikalen« Verfassung vom Jahre III wäre es nicht zur Restauration der Monarchie gekommen... Man sieht: es gibt nichts Neues unter dieser Sonne.

26 Giovanni Zibordi, Der Faschismus als antisozialistische Koalition, in: Ernst Nolte, Theorien über den Faschismus, a.a.O., S. 79‑87; hier S. 83. 

27 Filippo Turati, Faschismus, Sozialismus und Demokratie, a.a.O., S. 143-155; hier S. 147 f. 

28 Angelo Tasea, Nascità e Avvento del Fascismo, Turin 1950. Dt. im Europa-Vlg., Wien 1969. 

29 Siehe u.a. Hendrik de Man, Sozialismus und National-Faschismus, Potsdam 1931; die Memoiren von Severing (»Mein Lebensweg«, Band II: »Im Auf und Ab der Politik« (Köln, 1950); die Memoiren von Otto Braun: »Von Weimar zu Hitler«, New York (Europa-Verlag) 1940, usw. 

30 Otto Braun entschuldigt seine jämmerliche Kapitulation vor dem Papenschen Staatsstreich am 20. Juli 1932 mit dem Argument, angesichts der Wirtschaftszerrüttung und der Millionen von Arbeitslosen sei ein Generalstreik wie gegen den Kapp-Putsch unmöglich. Dabei vergißt er, daß auch zur Zeit des Kapp-Putsches die deutsche Wirtschaft schwer zerrüttet war. Interessanterweise fürchteten die Unternehmerverbände und die reaktionären Politiker durchaus den Generalstreik, - entgegen den Behauptungen Otto Brauns. Auch die offizielle Geschichte der I.G. Metall »Fünfundsiebzig Jahre Industriegewerkschaft«, Frankfurt (Europäische Verlagsanstalt) 1966, erklärt ausdrücklich: »Vergeblich wartete die Arbeiterschaft am 20. Juli 1932 auf ein Signal zum Handeln« (S. 279). Am unsinnigsten ist Brauns Argument, gegen die Reichswehr könne ein Arbeiteraufstand nur mit einer Niederlage enden. Als ob die kampflose Kapitulation nicht einer weit verheerenderen Niederlage gleichkäme! 

31 Siehe zahlreiche Belege bei Theo Pirker, Komintern und Faschismus 1920-1940, Stuttgart (D.V.A.) 1965. Die Lektüre der offiziellen Komintern- und KPD-Presse der Periode 1930 bis 1933 bleibt aber der eindrücklichste Beleg. In seiner Einleitung zur 2. Auflage von Ossip K. Flechtheims »Die KPD in der Weimarer Republik«, Frankfurt (Europ. Verlagsanst.) 1969, gibt Hermann Weber eine Übersicht über die bedeutende Literatur zur KPD-Politik der Jahre 1930-33. Flechtheims Buch enthält auch selbst zahlreiche Quellen und liefert zahlreiche Belege für Trotzkis These. 

32 In der Theorie vom »Sozialfaschismus« wird die objektive Rolle der sozialdemokratischen Führung (ohne Zweifel ein Faktor der Stabilisierung des status quo der spätbürgerlichen Gesellschaft) gegenüber ihrer Massenbasis und ihrer spezifischen Form (die das Fortbestehen der Arbeiterorganisationen impliziert) willkürlich isoliert; in der Volksfronttheorie wird dagegen der antifaschistische Wille der Massen und der Zwang der sozialdemokratischen Führung, sich gegen die Gefahr der Vernichtung durch den Faschismus zur Wehr zu setzen, ebenso willkürlich vom gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang der Strukturkrise des Spätkapitalismus isoliert. Im ersten Fall werden die Massen durch Spaltung paralysiert, im zweiten durch Rücksichtnahme auf den »liberal«-bürgerlichen Partner der Volksfrontpolitik entscheidend gebremst. Das Pendel schwingt von der linksopportunistischen zur rechtsopportunistischen Abweichung, ohne die richtige Position, jene der Aktionseinheit der Werktätigen (mit einer objektiv antikapitalistischen Dynamik) je zu erfassen. 

33 Noch spät in den fünfziger Jahren wurde der verzweifelte Versuch unternommen, sich an der Rechtfertigung der KPD-Politik der Jahre 1930 bis 1933 festzuklammern. Siehe u.a. das Heft: »Les Origines du Fascisme«, veröffentlicht in der Reihe »Recherches Internationales à la Lumière du Marxisme«, Nr. 1, Editions La Nouvelle Critique, Paris 1957. 

34 Siehe Band 4 der »Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung«, Berlin (Dietz) 1966, S. 168, 171, 206, 239, 188 f., 300-303, 312 usw. Praktisch gibt die »Geschichte ... « Trotzki in jedem Punkt der Kritik nachträglich recht ohne seinen Namen ein einziges Mal in diesem Zusammenhang zu erwähnen. 

35 Ernst Nolte, a.a.O., S. 55, 66, usw.; Harold Laski, Réflexions sur la Révolution de notre Temps, Paris (Le Seuil) 1946, S. 135. 

36 Es wäre interessant, die tieferen Wurzeln dieses Zwangs zu untersuchen. Er liegt u.E. nicht nur in der Notwendigkeit, die Atomisierung der Arbeiterklasse durch Massenterror zu gewährleisten, wozu ein »normaler« Repressionsapparat nicht ausreicht, sondern auch in der Natur der auf Privateigentum an Produktionsmitteln errichteten Produktionsweise selbst, der immer ein Element der Konkurrenz anhaftet, und in der es den direkten Vertretern der Konzerne nur auf dem Umweg des Feilschens und der gegenseitigen Aussöhnung widerspruchsvoller Teilinteressen gelingen kann, zum Gesamtinteresse der Klasse (oder genauer: ihrer entscheidenden Schicht) vorzustoßen. Soll dieses Gesamtinteresse unmittelbar und zentralisiert, also ohne lange Besprechungen und schwierige Verhandlungen sich auswirken, dann muß die Interessenvertretung des Gesamtinteresses von der gleichzeitigen Verteidigung von Partikularinteressen getrennt werden, d.h.: dann muß die Personalunion der Großkonzerne und der politischen Führung aufgehoben werden. Deshalb die Neigung der bürgerlichen Gesellschaft zur politischen Selbstentmachtung in Krisenzeiten, in ihrer stürmischen Jugend ebenso wie in ihrem dekadenten Alter. 

37 Einen ähnlichen Fehler begeht auch Robert A. Brady in seinem Buch »The spirit and structure of German fascism«, New York (The Viking Press) 1937. 

38 Ignazio Silone, Der Faschismus - Seine Entstehung und seine Entwicklung, Europa Verlag, Zürich 1934, S. 32 ff., 46 ff., 52 f., usw. 

39 A.a.O., S. 276 ff. 

40 August Thalheimer, über den Faschismus, in: Faschismus und Kapitalismus; Politische Texte, herausgegeben von Wolfgang Abendroth, Frankfurt (Europäische Verlagsanstalt) 1967, S. 19-38; Otto Bauer, Zwischen zwei Weltkriegen?, a.a.O., S. 113-141. 

41 Dieser Aspekt wurde auch von Rüdiger Griepenburg und K. H. Tjaden in »Faschismus und Bonapartismus« (in: »Das Argument«, Heft 41, 8. Jg. Heft 6, Dezember 1966, S. 461-471) unterstrichen.

42 Otto Bauer, a.a.O., S. 113 f.

43 A.a.O. S. 116. 

44 Arthur Rosenberg, Geschichte der Weimarer Republik, Frankfurt (Europäische Verlagsanstalt) 1961, S. 211. 

45 Charles Bettelheim, a.a.O., S. 210. 

46 Jürgen Kuczynski, Die Geschichte der Lage der Arbeiter in Deutschland, Bd. II: 1933 bis 1946. Berlin (Verlag Die freie Gewerkschaft) 1947, S. 125, 199, 154. 

47 Franz Neumann, a.a.O., S. 43. Unter diesen Bedingungen klingt es geradezu wie Hohn, wenn Tim Mason zum Beweis des angeblichen »Primats der Politik« nach dem Jahre 1936 die Tatsache anführt, daß es die Hitlerregierung zwei Jahre lang, zwischen Herbst 1936 und Sommer 1938, »unterließ«, die Einschränkung der Freiheit des Arbeitsplatzwechsels und die Festsetzung von Höchstlöhnen zu beschließen: »Die beiden Maßnahmen wurden von der politischen Führung abgelehnt, Weil so radikale Schritte gegen das materielle Interesse der Arbeiterschaft mit der politischen Aufgabe, die Arbeiter zum Nationalsozialismus zu erziehen, nicht zu vereinbaren waren« (Tim Mason, Das Primat der Politik, in: Das Argument, 8. Jahrgang, Heft 6, Dezember 1966. Nr. 41, S. 485). Wer zuviel beweisen will, beweist, daß er Unrecht hat. Tim Mason scheint nicht einzusehen, daß das Entscheidende dieser Affäre nicht etwa die Tatsache war, daß diese Schritte zwei Jahre lang hinausgeschoben wurden, sondern daß sich umgekehrt ein zumindest demagogisch auf »Volksgemeinschaft« eingeschworenes Regime zu einer solchen Teilversklavung der eigenen Arbeiterschaft - Aufhebung der Freizügigkeit - und einem solchen »Monopol an Rüstungsprofiten« zugunsten der Großkonzerne entschloß. Beweist das nicht gerade, daß die Interessen der »politischen Führung. schließlich vor jenen des Monopolkapitals zurückweichen mußten, daß es also kein »Primat der Politik«, sondern ein »Primat des Monopolkapitals« gab? 

48 Neumann, a.a.O., S. 613; Bettelheim, a.a.O., S. 63. 

49 Neumann, a.a.O., S. 601 f., 591 f. 

50 Tim Mason, a.a.O., S. 482 f., 487, 484. 

51 Zur Reprivatisierung siehe u.a. Bettelheim, a.a.O., S. 112; Neumann, a.a.O., S. 297 f. Über die Gelsenkirchen AG-Affäre, ihre zentrale Bedeutung bei dem überschwenken breiter Kreise der Schwerindustrie ins Lager Hitlers und über die Reprivatisierung der Vereinigten Stahlwerke im Jahre 1936 siehe u.a.: George F. W. Hallgarten: »Hitler, Reichswehr und Industrie«, S. 108‑113; K. Gossweiler: »Die Vereinigten Stahlwerke und die Großbanken.«, in: »Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte«, 1965, Teil IV, Akademie-Verlag, Berlin, S. 11-53. 

52 Wir möchten in diesem Zusammenhang nochmals auf das von Tim Mason aufgeworfene Problem, das Entscheidende sei »die politische Willensbildung«, und »die Innen- und Außenpolitik der nationalsozialistischen Staatsführung (sei) ab 1936 in zunehmendem Maße von der Bestimmung durch die ökonomisch herrschenden Klassen unabhängig« geworden (a.a.O., S. 474), zurückkommen. Das entscheidende Wort ist hier »Bestimmung«. Es wendet sich in Wirklichkeit nicht gegen die marxistische Staats- und Gesellschaftsinterpretation, sondern nur gegen ihre mechanische Verflachung. Der Marxismus impliziert, daß es keine absolute Identität zwischen Oberbau und Unterbau gibt; daß beide Ebenen ihre eigene, schon durch die Arbeitsteilung bedingte, innere Logik haben; daß also Klassengesellschaften bis zu einem gewissen Grade eine Verselbständigung nicht nur von Religion und Philosophie, sondern auch von Staat und Armee kennen. Worauf es ankommt ist nicht, zu wissen, ob eine Gruppe von Bankiers oder Großindustriellen dem Regierungschef oder Armeeführer seine Beschlüsse unmittelbar »diktiert«, sondern ob diese Beschlüsse dein Klasseninteresse dieser Großfinanz oder der Großkonzerne entsprechen und aus der inneren Logik der Verteidigung der gegebenen Produktionsweise heraus verständlich werden.

Tim Mason übersieht, daß Militarismus und Kriege diese Autonomie schon sehr weitgehend im Rahmen des Monopolkapitalismus, lange bevor die NSDAP geboten wurde, erlangt hatten. Ja, der ganze Begriff des »Primats der Politik« ist gerade aus dem Komplex des Ersten Weltkriegs geboren. »Gewisse Andeutungen«, schrieb Tim Mason, »sind schon jetzt vorhanden, daß der Angriff auf Polen 1939 und auf Frankreich 1940 keinen unabdingbaren Teil der Gesamtkonzeption der herrschenden Klasse bildete« (»Primat der Industrie?« Eine Erwiderung. In: »Das Argument«, Heft 47, Juli 1968, S. 206). Kann man dasselbe nicht auch von Churchills Dardanellen-Abenteuer im Ersten Weltkrieg, von Verdun und den anderen gewaltigen Materialschlachten des Ersten Weltkriegs und überhaupt von der Auslösung dieses Ersten Weltkriegs mindestens mit ebenso starker, rückwirkender Kraft behaupten wie vom Zweiten Weltkrieg?

Wäre es nicht »im Interesse« des Großkapitals gewesen, sich lieber über die Gegensätze zwischen serbischen und bosnischen Schweineexporten oder zwischen deutscher und englischer Nahost-Penetration zu einigen, als Millionenverluste zu erleiden und eine sozialistische Revolution heraufzubeschwören? Waren es nicht Diplomaten, Kaiserkamarilla und vor allem Generalstäbler, die zwischen den Schüssen von Sarajewo und dem Einmarsch in Belgien die Entscheidungen trafen, statt der Unternehmerverbände oder dem Verwaltungsrat der Deutschen Bank? Und sind nicht Militarismus, imperialistische Gegensätze, militaristisch-nationalistische Ideologie, Wettrüsten, Rohstoffarmut Deutschlands usw. unvermeidliche Produkte einer bestimmten Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur und die letzten Ursachen des Krieges? Lag ihnen nicht das Expansionsstreben der Deutschen Bank zugrunde? Und sind die Kriegsziele nicht eng mit diesem Ursprung des Wettrüstens verbunden? In diesem Sinne muß man die marxistische These der monopolkapitalistisch-imperialistischen Natur des Nazisystems verstehen und nicht in dem eng mechanischen Sinne, daß die Herren Großbankiers mehr Einfluß auf die unmittelbare Kriegsführung als das Hauptquartier der Wehrmacht gehabt hätten (was ja auch im Ersten Weltkrieg keineswegs der Fall war).

Dietrich Eichholz und Kurt Gossweiler bringen in diesem Zusammenhang ein schönes Zitat des Mitglieds des Vorstands und des Zentralausschusses der IG-Farbenindustrie AG, eines Herrn Carl Krauch, vom 28. April 1939: »Heute wie 1914 erscheint die deutsche politische und wirtschaftliche Lage - eine von der Welt belagerte Festung - eine rasche Kriegsentscheidung durch Vernichtungsschläge gleich zu Beginn der Feindseligkeiten zu verlangen« (Das Argument, Nr. 47, S. 226). Das war die herrschende Mentalität der entscheidenden Kreise des Monopolkapitals. Daß sie nachträglich genau so »irrational« erscheint wie jene des Wilhelminischen Großbürgertums (und der vergleichbaren Mentalität zahlreicher anderer imperialistischer Mächte) beweist nur, daß imperialistische Kriege überhaupt und der Monopolkapitalismus an sich die »rationalisierte Irrationalität«, die immanent in der bürgerlichen Gesellschaft vorhanden ist, bis zur höchsten Potenz steigern.

53 Klaus Drobisch, Flick-Konzern und faschistischer Staat 1933‑1939, in: Monopole und Staat in Deutschland 1917-1945, Berlin (Akademie-Verlag) 1966, S. 169 f.

54 Hierzu gibt es viele Quellen. Eine eindrucksvolle Schilderung bringt George F. W. Hallgarten, a.a.O., S. 104 ff. 

55 Auch hier sind die Quellen besonders zahlreich. Siehe u.a. H. S. Hegner, Die Reichskanzlei von 1933-1945, Frankfurt (Verlag Frankfurter Bücher) 1959, S. 33 ff.; Alan Bullock, Hitler, A Study in Tyranny, Penguin Books 1962, S.196 ff., 243 ff.; William L. Shirer, Aufstieg und Fall des Dritten Reiches, Bd. 1, S- 103-214, München (Knaur Verlag) 1963, gibt eine Zusammenfassung der wichtigsten Zeugnisse, vor allem das von Meissner, und eine bedeutende Bibliographie. 

56 Vgl. dazu die diesem Zeitabschnitt gewidmeten Passagen in den autobiographischen Aufzeichnungen z.B. von M. Buber-Neumann, H. Brandt, G. Grosz, F. Jung, A. Koestler, S. Leonhard, G. Regler, J. Valtin. 

57 Die Liste politischer Führer, die in den USA in den letzten Jahren ermordet wurden, erinnert unheilvoll an die der Weimarer Zeit: Malcolm X, Martin Luther King, John F. Kennedy, Robert Kennedy, die beiden Black Panther-Führer von San Francisco sind nur einige Namen aus einer langen Reihe. 

58 Allerdings muß darauf hingewiesen werden, daß sich in diesem bereits einsetzenden Polarisierungsprozeß der Aktivismus von rechts in den letzten Jahren eher im Niedergang befindet und auch in den USA der politisch aktive Teil der Jugend überwältigend nach links tendiert. Wie in Westeuropa findet die Konfrontation nicht zwischen Links- und Rechtsaktivisten, sondern zwischen Linksaktivisten und Polizei statt. Die relative Prosperität des amerikanischen Mittelstands und der ihr entsprechende Konservatismus sind daran natürlich nicht unbeteiligt.

 

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