Die moderne
Gewerkschaftsbewegung ist ein Produkt der ersten Phase des
modernen Kapitalismus, der Phase der freien Konkurrenz. Die
kapitalistische Produktionsweise schließt den Produzenten von
jeglichem freien Zugang zu Produktions- und Lebensmitteln ab,
zwingt ihn, seine Arbeitskraft zu verkaufen, um die Mittel zum
unmittelbaren Lebensunterhalt zu erringen, und verwandelt somit
diese Arbeitskraft in eine Ware. Wie jeder Warenbesitzer begibt
sich der Besitzer der Ware "Arbeitskraft" auf den
Markt, um diese zu verkaufen. Wie jede Ware wird auch die Ware
"Arbeitskraft" letzten Endes zu ihrem Wert, d.h. zu
ihrem gesellschaftlich durchschnittlichen Produktionspreis
verkauft. Nur befindet sich der Verkäufer der Ware
"Arbeitskraft" in einer, durch die kapitalistische
Produktionsweise bedingten, besonderen, verglichen mit jener
aller anderen Warenbesitzer im Kapitalismus institutionell
unterschiedlichen Lage. Er ist gezwungen, seine Ware zum
laufenden Marktpreis zu verkaufen, weil er diese nicht vom Markt
zurückziehen kann, um eine günstigere Marktlage abzuwarten.
Weigert er sich, den laufenden Marktpreis anzunehmen, so gerät
er in Gefahr, zusammen mit seiner Familie zu verhungern. Deshalb
wird unter normalen Bedingungen des Kapitalismus, vor allem,
wenn die strukturelle Erwerbslosigkeit hoch ist (und die
beginnende Industrialisierung bedingt dieses hohe Niveau, mit
Ausnahme der bevölkerungsleeren Ansiedlungskolonien), die Ware
"Arbeitskraft" laufend unter ihrem Wert verkauft.
Die moderne
Gewerkschaftsbewegung entsteht als Reaktion der Lohnarbeiter auf
diesen Tatbestand. Wird die Konkurrenz zwischen den Unternehmern
auf die Konkurrenz zwischen den Verkäufern der Ware
"Arbeitskraft" ausgedehnt, so sind die Lohnabhängigen
hilflos der Tendenz des Sinkens des Lohnes unter die
Produktionskosten der Arbeitskraft ausgesetzt. Gewerkschaften
sind demnach ein Versuch, die Atomisierung der Lohnabhängigen
einzuschränken und die institutionelle Ungleichheit von Käufer
und Verkäufer der Ware "Arbeitskraft" wenigstens
dadurch einzuschränken, daß der Verkauf nicht mehr
individuell, sondern kollektiv stattfindet.
An und für
sich sind demnach Gewerkschaften nicht systemsprengend im
Kapitalismus. Sie sind nicht Mittel zur Aufhebung der
kapitalistischen Ausbeutung, sondern nur Mittel zu einer für
die Masse der Lohnabhängigen erträglicheren Ausbeutung. Sie
sollen die Löhne erhöhen, nicht die Lohnarbeit überhaupt
aufheben. Aber gleichzeitig sind die Gewerkschaften an und für
sich auch nicht systemkonform im Kapitalismus. Denn indem sie
dem Sinken der Reallöhne Einhalt gebieten und wenigstens
periodisch und unter bestimmten Bedingungen günstige
Fluktuation von Nachfrage und Angebot an Arbeitskraft auf dem
Arbeitsmarkt zur Hebung des Marktpreises dieser Ware ausnützen
können, erlauben sie der organisierten Masse der Arbeiterschaft
ein Minimum an Konsum und Bedürfnissen zu übersteigen, so daß
Klassenorganisation, Klassenbewußtsein und wachsendes
Selbstvertrauen erst in breiterem Ausmaß entstehen und die
Vorbedingungen für einen systemsprengenden Kampf breiterer
Massen überhaupt erst erzeugen können.
Um normal
funktionieren und sich ausdehnen zu können, benötigt die
moderne Gewerkschaftsbewegung zwei wirtschaftliche
Vorbedingungen: erstens einen Grad der Industrialisierung oder
des durchschnittlichen Wirtschaftswachstums, in dem tendenziell
mehr Arbeitsplätze entstehen als gleichzeitig durch die
Prozesse des Ruins des selbständigen Handwerks und des selbständigen
Bauern sowie durch die Konzentration des Kapitals autgehoben
werden. Zweitens eine Form des Funktionierens der
kapitalistischen Produktionsweise, in der die Bestimmung der Löhne
durch die Fluktuationen von Nachfrage und Angebot der Ware
"Arbeitskraft", d.h. durch die Marktlage auf dem
Arbeitsmarkt, die Lebensinteressen der mächtigsten Schichten
der herrschenden Klasse nicht gefährdet. Historisch sind diese
Bedingungen nur im Westen, und nur in der frühimperialistischen
Phase des Monopolkapitalismus, etwa 1890-1914, verwirklicht
worden.
Ist die erste
Bedingung nicht erfüllt, so bleiben die Gewerkschaften schwach
und wirkungslos, wie dies in Großbritannien im ersten Teil des
19. Jahrhunderts, im übrigen Westeuropa bis in die achtziger
Jahre des 19. Jahrhunderts der Fall war, und in den Ländern der
sogenannten "Dritten Welt" auch heute noch der Fall
ist. Ist die zweite Bedingung nicht mehr erfüllt, so gehen die
Großunternehmer daran, durch Ausschaltung der freien
Gewerkschaften die nötigen Verwertungsbedingungen des Kapitals
wiederherzustellen, wie dies in den ökonomisch schwächeren Ländern
Europas zur Zeit der großen Wirtschaftskrise allgemein geschah.
Die Tatsache,
daß Gewerkschaften an und für sich weder systemsprengend noch
systemfördernd sind, hat seit Ende des 19. Jahrhunderts auch in
den ursprünglich von Sozialisten gegründeten Gewerkschaften ähnliche
Ansichten der "Neutralität" gegenüber der
kapitalistischen Produktionsweise aufkommen lassen, wie sie bei
den "reinen" Gewerkvereinen etwa Großbritanniens
schon seit jeher bestanden. Man solle sich nur auf die
Organisation der Lohnabhängigen beschränken, durch die
wachsende Macht dieser Organisation die schlimmsten Auswüchse
der kapitalistischen Ausbeutung beseitigen, und den Arbeitern
einen wachsenden Lebensstandard sichern. Diese Macht würde dann
die bürgerliche Gesellschaft zu einer allmählichen Anpassung
an objektive Sozialisierungsprozesse zwingen. Das übrige könne
man dem allgemeinen Wahlrecht überlassen.
Der von Bernstein
offen ausgesprochene Revisionismus entsprach durchaus den Wünschen
der führenden Kreise der Gewerkschaften, die auch die schärfsten
Gegner der von Rosa Luxemburg geführten Linken in den
Auseinandersetzungen innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung
vor dem 1. Weltkrieg waren. Diesen Ansichten lag eine bestimmte
historische Prognose zugrunde, nämlich jene eines graduellen
Abbaus der Klassengegensätze innerhalb der kapitalistischen
Produktionsweise dank der organisierten Kraft der
Arbeiterbewegung, an erster Stelle der Gewerkschaften. Sechzig
Jahre später haben englische und amerikanische liberale
Nationalökonomen wie Galbraith den alten Bernstein mit
ihrer Theorie des "countervailing-power" und
der "gemischten Gesellschaft" wieder aufleben
lassen.
Leider hat die
Geschichte des 20. Jahrhunderts diese Illusionen eines
graduellen Abbaus der inneren Gegensätze der kapitalistischen
Produktionsweise keineswegs bestätigt. Seitdem diese
Produktionsweise ihre historische Aufgabe der Schaffung des
Weltmarkts und der weltweiten Ausdehnung der Warenproduktion erfüllt
hatte, zeugt eine lange Reihe von Erschütterungen von der
wachsenden Explosivität dieser Gegensätze: zwei Weltkriege,
die große Wirtschaftskrise der Jahre 1929 bis 1932, die
Ausdehnung des Faschismus in ganz Europa, der Verlust eines
Drittels der Erde für die kapitalistische Produktionsweise,
eine ununterbrochene Kette von Kolonialkriegen in den letzten
zwanzig Jahren, die fürchterliche Gefahr, die der Wettlauf nach
Kernwaffen für die Zukunft der Menschheit heraufbeschwört,
sind nur einige der wichtigsten Zeugnisse dieser explosiven
Gegensätze.
Die aus den
Hoffnungen auf einen graduellen, ununterbrochenen Fortschritt
geborenen Gewerkschaftstheorien erwiesen sich als unfähig, die
neuen historischen Aufgaben, mit denen die Arbeiterbewegung in
der Epoche des Kapitalismus konfrontiert wurde, zu erkennen,
geschweige denn, sie zu lösen. Ein Festhalten an
nur-gewerkschaftlicher Theorie und Praxis mußte zwangsläufig
zum Schluß führen, daß nur ein kräftiger und gesunder
Kapitalismus Lohnerhöhungen gewähren könne. Darum war man
bereit, den Arzt am Krankenbett des Kapitalismus zu spielen, und
statt zu versuchen, diesem Kranken zu seinem Ende zu verhelfen,
beraubte man sich, den Kapitalismus mit allen Mitteln von seiner
Krankheit zu heilen. Das Paradox endete dort, wo man Lohnkürzungen
akzeptierte, um einen "gesunden" Kapitalismus zu
erzeugen, d.h., um spätere Lohnerhöhungen zu erreichen. Eine
Gewerkschaftsbewegung, die zu solch absurden Schlußfolgerungen
gelangte, war offenbar in eine Sackgasse geraten.
Jede
Institution unterliegt in einer auf verallgemeinerter
Warenproduktion und Arbeitsteilung aufgebauten Gesellschaft der
Gefahr der Verdinglichung und der Verselbständigung, d.h. der
Gefahr, die ursprüngliche Funktion zu verlieren und nur noch
der eigenen Selbsterhaltung zu dienen. Diese Gefahr wird
besonders stark, wenn in dieser Institution eine
gesellschaftliche Schicht entsteht, deren materielles Interesse
engstens mit der Selbsterhaltung der betreffenden Institution
verbunden ist. Der Prozeß der Verbürokratisierung der
Gewerkschaften, der engstens mit dem Hinabgleiten der
Klassenkampftheorie zur Theorie und Praxis der
Klassenzusammenarbeit verbunden ist, erklärt so mindestens z.T.
jenes Paradox, das aber auch eigenständige ideologische Wurzeln
hat, d.h. den inneren Widersprüchen der "reinen"
Gewerkschaftstheorie entspricht. Fing somit die Ideologie der
Gewerkschaftsbürokratie an, einen Funktionswandel der
Gewerkschaften zu bestimmen, so wurden allmählich im Zeitalter
des Spätkapitalismus immer stärkere objektive Prozesse
sichtbar, die in dieselbe Richtung drängten.
Der Spätkapitalismus
steht seit den vierziger Jahren im Zeichen der dritten
industriellen Revolution, d.h. im Zeichen einer beschleunigten
technologischen Erneuerung. Diese beschleunigte technologische
Erneuerung bedingt eine Verkürzung des Reproduktionszyklus des
fixen Kapitals, der einen wachsenden Zwang in Richtung auf
langfristige Investitionsplanung, genaue Kostenplanung, und
deshalb auch genaue Lohnkostenplanung beinhaltet. Dadurch
schrumpft das klassische Tätigkeitsfeld der Gewerkschaften
automatisch. Idealmodell für den "organisierten" Spätkapitalismus
ist eine verallgemeinerte Wirtschafts- und Sozialprogrammation,
die es den Großkonzernen erlaubt, ihre Investitionsprogramme
miteinander zu koordinieren, die unter der Herrschaft des
Privateigentums an Produktionsmitteln im Wirtschaftsbereich rein
Indikativ bleiben muß, die aber im Sozialbereich
durchaus imperativ wirken soll. Deshalb überall der
Druck zugunsten der "konzertierten Aktion", der
"Einkommenspolitik", der "sozialen
Programmierung". Hinter all diesen Formeln versteckt sich
ein einheitlicher Zweck: Abbau der Tarifautonomie der
Gewerkschaften, Verhinderung der Ausnützung von zeitweilig günstigen
Konjunkturlagen auf dem Arbeitsmarkt (Vollbeschäftigung oder
gar akute Knappheit an Arbeitskräften) durch die Arbeiterschaft
im Sinne von bedeutenden Lohnerhöhungen und (unter Bedingung
einer bestimmten Geldpolitik) im Sinne einer bedeutenden Senkung
der Mehrwert- und Profitrate.
Gleichzeitig
aber verleiht dieser grundlegende Trend des Spätkapitalismus in
der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Gewerkschaftsbürokratie
neue Perspektiven. Es handelt sich jetzt nicht nur darum, die
Organisationsmacht am Verhandlungstisch gegenüber den
Unternehmervertretern zu verwerten. Es handelt sich nun auch
darum, in den zahlreichen Gremien der staatlichen und
halbstaatlichen Wirtschaftslenkung die Lohnabhängigen zu
vertreten. In den skandinavischen Ländern, in Belgien und
Holland, in Frankreich und Italien und seit einigen Jahren auch
in Großbritannien hat sich so ein Prozeß der breitesten
Integration der Gewerkschaftsspitzen in den bürgerlichen Staat
abgezeichnet, wobei Gewerkschaftsführer oft mehr Zeit in diesen
staatlichen Gremien als in eigentlichen
Gewerkschaftsversammlungen verbringen.
Ideologisch
gesehen entspricht diese weitere Integration der Gewerkschaftsbürokratie
in den spätbürgerlichen Staatsapparat derselben Motivation der
Klassenzusammenarbeit und derselben gradualistisdien Illusionen,
wie die vorige Welle der Integrationen. Weil der "soziale
Fortschritt" durch das "wirtschaftliche Wachstum"
bestimmt sei, müsse man halt die Verantwortung für dieses
wirtschaftliche Wachstum auf sich nehmen, ohne sich Gedanken zu
machen über die Struktur der bestehenden Produktionsweise, die
durch dieses Wachstum konsolidierten Klassengegensätze und die
Klassenausbeutung usw. usf. Weil die Posten in den Verwaltungsräten
der verstaatlichten Industrien und Konzerne, weil die Posten im
Verwaltungsrat der Zentralbanken, weil die unzähligen Posten in
staatlichen Programmierungs- und Planungsgremien als so viele
"Positionen" gesehen werden, von denen aus man die bürgerliche
Wirtschaft "Schritt für Schritt" erobern könne, wird
die "Mitbestimmung und Mitverantwortung" in der spätkapitalistischen
Wirtschaft als eine Etappe zur zukünftigen Sozialisierung bei
manchen nicht völlig dem Zynismus verfallenen Gewerkschaftsführern
rationalisiert. Der Urtyp dieses Verhaltens wurde vom alten
französischen Gewerkschaftsführer Jouhaux geliefert,
der nach dem ersten Weltkrieg freudestrahlend das Dekret, das
ihn zum Mitglied des Verwaltungsrats der Banque de France ernannte,
den Gewerkschaftlern vorlegte und ausrief: "Der erste Nagel
im Sarg des Kapitalismus". Der französische Kapitalismus
scheint aber seit fünfzig Jahren diese Nägel sehr gut überstanden
zu haben und ist heute genauso lebendig wie im Jahre 1919...
Die Tendenz zur
wachsenden Integration der Gewerkschaftsspitzen in den bürgerlichen
Staatsapparat stößt jedoch auf zwei grundlegende Widersprüche
im Spätkapitalismus:
Einmal benötigen
die Großkonzerne und bürgerlichen Regierungen diese Teilnahme
der Gewerkschaftsbürokratie an der Wirtschafts- und
Sozialprogrammierung nur in dem Maße, wie dadurch ein
Aufbegehren der Arbeiterschaft gegen die weiterhin zyklische
Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise (einmal
Vollbeschäftigung mit "Maßhalten" in der
Lohnpolitik; daraufhin Rezession mit Erwerbslosigkeit und
massierte Angriffe der Unternehmer gegen den erreichten
Lebensstandard und die gegebenen Arbeitsbedingungen der Lohnabhängigen)
erfolgreich abgebaut werden kann. Aber eine wachsende
Identifizierung der Gewerkschaftsführung mit der
"staatlich gelenkten" Lohnpolitik (wie etwa in Holland
und Skandinavien während langer Jahre) oder mit einer
"freiwilligen" Einkommenspolitik (Großbritannien) muß
zwangsläufig auf wachsenden Widerstand der Lohnabhängigen stoßen,
auf eine Welle von wilden Streiks, auf eine Aushöhlung der
inneren Beziehungen zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und
Gewerkschaften. Dies aber verringert die Nützlichkeit der
Gewerkschaftsbürokratie in den Augen der Großkonzerne. Jene
bedürfen nämlich einer die Arbeitermassen tatsächlich
kontrollierende und ihre Kämpfe kanalisierende, nicht aber eine
nur nominelle Gewerkschaftsbürokratie, wie das Beispiel der
sog. "vertikalen" Staatsgewerkschaft in Spanien
eindeutig bewiesen hat. Ist die Gewerkschaftsbürokratie zu
einer solchen Kontrolle nicht mehr fähig, so wird ihre
"Desintegration" aus dem bürgerlichen Staatsapparat
die wahrscheinlichere Variante, sei es daß die Großkonzerne
selbst die Initiative dazu nehmen, sei es, daß die
Gewerkschaftsführung eine "Wende nach links"
vornimmt, um die Kontrolle über die Arbeiteragitation wieder zu
erlangen.
Andererseits
hat aber auch die Tendenz zur wachsenden
Wirtschaftsprogrammierung und zum "organisierten"
Kapitalismus, die die Integration der Gewerkschaftsbürokratie
in den bürgerlichen Staatsapparat bedingt, eine doppelte und
widerspruchsvolle Auswirkung auf die Masse der Lohnabhängigen.
Diese sind ohne Zweifel in größerem Maß als vorher der
mystifizierenden Demagogie der "Betriebsinteressen"
und der vom Bürgertum vorgeheuchelten und nur von
Gewerkschaftsseite praktizierten Klassenzusammenarbeit
ausgesetzt. Aber gleichzeitig bedingt die wachsende öffentliche
Debatte über gesamtgesellschaftliche Aggregate wie
Bruttosozialprodukt, Volkseinkommen, Lohnquote,
Investitionsquote, Geldvolumen, Produktivitätssteigerung usw.
usf. die wachsende Möglichkeit eines Interesses
fortgeschrittener Arbeiter und Angestellter für
gesamtwirtschaftliche und gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge.
Genauso wie die Wirtschaft vor dem ersten Weltkrieg mit ihrem
andauernden Guerillakampf über die Verteilung des von der
Arbeiterschaft neu geschaffenen Wertes zwischen Unternehmern und
Lohnabhängigen zu einer praktischen Schule des Klassenkampfes
wurde, sobald der Arbeiterschaft die inneren Zusammenhänge
dieses Kampfes verdeutlicht wurden, genauso können die heutigen
öffentlichen Auseinandersetzungen über Verteilung des
Volkseinkommens und Umfang, Inhalt und Orientierung der
Investitionen zu einer praktischen höheren Schule des
Klassenkampfes werden, wenn die Lohnabhängigen wiederum in
breitem Außmaß über die inneren Zusammenhänge dieser
Prozesse mit den der kapitalistischen Produktionsweise
innewohnenden Widersprüchen und über deren
Ausbeutungscharakter aufgeklärt werden, und wenn die
Vermittlung dieser Aufklärung über die unmittelbaren Bedürfnisse
und Sorgen der Lohnabhängigen gefunden wird.
Gewiß ist
dieses objektive Ergebnis der wachsenden Verquickung von Großkonzernen,
bürgerlichem Staat und staatlicher Wirtschafts- und
Sozialpolitik keineswegs ein automatisches Produkt des
"organisierten" Spätkapitalismus. Eine
demokratisch-neoreformistische Strömung, die sich seit den sog.
"Plan-Experimenten" etwa eines Hendrik De Mars in
den dreißiger Jahren in der Gewerkschaftsbewegung verbreitet
hat, versucht den Übergang des Kampfes für Reformen in der
Distributionssphäre zu Kämpfen für Strukturreformen als einen
großen Fortschritt an und für sich darzustellen. Die Erfahrung
beweist aber immer wieder, daß zwischen neokapitalistischen,
das System - sehr oft auf Kosten der Lohnquote! -
rationalisierenden und leicht von den Großkonzernen zu
absorbierenden Strukturreformen und solchen, die systemsprengend
wirken, weil sie in die kapitalistische Produktionsweise nicht
integriert werden können und letzten Endes dazu führen, daß
der Klassenkampf einer Entscheidungsschlacht zustrebt, schärfstens
unterschieden werden muß. Die ersten führen in ihrer Logik zu
einer weiteren Integration der Gewerkschaftsbürokratie in den bürgerlichen
Staatsapparat, zu einem weiteren Abbau von Kampfwiilen und
Kampferfahrung der Lohnabhängigen. Der Kampf um die zweiten
kann dagegen nur die Gewerkschaftsbewegung radikalisieren und
die Masse für weitere und breitere Kämpfe und wachsendes
antikapitalistisches Bewußtsein mobil machen.
Die Möglichkeit,
von den neuen Formen des Funktionierens der kapitalistischen
Produktionsweise selbst auszugehen, um die Gewerkschaftsbewegung
und breitere Arbeitermassen auf radikale antikapitalistische
Ziele umzuorientieren, entspricht einer spontanen Tendenz des
elementaren Arbeiterkampfes auf Betriebsebene, wie er sowohl in
dem französisdien Generalstreik vom Mai 1968 und in den großen
italienischen Streiks im Herbst und Winter 1969, wie ansatzweise
in den zahlreichen wilden Streiks vieler westeuropäischer Länder
der letzten zwölf Monate zum Ausdruck kam. Was in diesen größten
Streiks, die es bisher in der Geschichte des Kapitalismus
gegeben hat (nahezu 10 Millionen Streikende in Frankreich,
nahezu 15 Millionen in Italien) zum erstenmal schlagartig
ausgesprochen wurde, das war eine Herausforderung und eine
"Kontestation" nicht nur der kapitalistischen
Einkommensverteilung, sondern der kapitalistischen
Produktionsverhältnisse selbst. Wie bedeutend auch Lohn- und
Arbeitszeitfragen für diese Streikbewegung waren, so bestand
das Neue an diesen riesigen Arbeitskämpfen in Westeuropa darin,
daß die Streikenden, sehr oft spontan, ohne tiefere
theoretische Einsicht und mit unbeholfenen Formulierungen als
Kampfziele nicht nur mehr Lohn und kürzere Arbeitszeit
forderten, sondern die neuen Formen der Entlohnung
(Arbeitsplatzbewertung, measured day work usw.) die zur
Atomisierung der Arbeiterklasse und zur rationalisierten
Kontrolle über die Arbeitskraft im Betrieb führen, in Frage
stellten, die Spanne zwischen den am schlechtesten und den am
besten bezahlten Schichten der Lohnabhängigen versuchten
herabzusetzen, die Arbeitsorganisation im Betrieb angriffen, den
Rhythmus des Fließbandes selbst versuchten zu bestimmen, ja
sogar die innerbetriebliche Arbeitsteilung erschütterten und
die Autorität der Meister und Vorarbeiter, d.h. die ganze
hierarchische Struktur des kapitalistischen Betriebes, anfingen
zu untergraben. Man kann alle diese neuartigen Forderungen nicht
besser zusammenfassen als in ihnen die Keimform des
unmittelbaren Kampfes gegen das Recht und die Macht des
Kapitals, Arbeit und Maschinen zu kommandieren, d.h. die
Keimform des unmittelbaren Kampfes gegen die kapitalistischen
Produktionsverhältnisse selbst zu erkennen.
Gewiß wäre es
verfrüht, die französischen und italienischen Streiks, d.h.
das Klassenbewußtsein von 25 Millionen westeuropäischer
Lohnabhängiger sämtlich auf diesen Nenner zu bringen. Noch
verfehlter wäre es, in jedem "wilden Streik" jedes
westeuropäischen Landes bereits den Ansatz zu einem französischen
Mai oder einem italienischen Herbst, d. h. den Ansatz zu einer
solchen wenigstens in Keimform direkten In-Frage-stellung der
kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu sehen. Noch nie war
das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung und der inneren
Differenzierung der Arbeiterschaft so stark in Westeuropa
erkennbar wie heute. Aber es handelt sich darum, das Neue in
diesen Kämpfen rechtzeitig aufzudecken und zu erkennen, daß es
die Tendenz haben wird, sich allmählich auf alle
imperialistischen Länder des Westens, sowie auf Japan,
auszudehnen.
Denn diese
neuartige Form der Arbeiterkämpfe in den industrialisierten Ländern
ist selbst ein Produkt der dritten industriellen Revolution, der
sich verändernden Formen der kapitalistischen Produktionsweise.
Beschleunigte technologische Erneuerung bedeutet im
"organisierten" Spätkapitalismus beschleunigte
Strukturkrisen von Gewerben, Industriezweigen und
Industrierevieren, beschleunigte Disqualifizierung ganzer
Berufsgruppen, beschleunigte Ausbeutung und vor allem ständige
Intensivierung des Arbeitsprozesses, aber gleichzeitig
beschleunigtes Wiedereinschleusen geistiger Arbeit in den
Produktionsprozeß, beschleunigte Hebung des durchschnittlichen
Qualifikation- und Wissensniveaus der Produzenten in den
technisch führenden Industriezweigen, beschleunigtes
Um-Sich-Greifen der Kontestation der bürgerlichen Herrschafts-
und Entfremdungserscheinungen im Bereich der Hoch- und
Mittelschule, des Kommunikationswesens, der Lebensgemeinschaft
und der Konsumsphäre überhaupt, was unvermeidlich zu einer
wachsenden Kontestation derselben Herrschafts- und
Entfremdungsbedingungen in der Produktionssphäre führen muß.
Die
intelligenteren Schichten der Großkonzerne und der bürgerlichen
Klasse sind sich der großen Gefahr, die diese neuen Kampfformen
und Kampfziele der Arbeiterschaft für das Überleben ihrer
Klassenherrschaft mit sich bringen, durchaus bewußt, — leider
viel mehr bewußt als die meisten Gewerkschaftsführer. Darum fällt
eine ideologische Kehrtwende dieses Großbürgertums zeitlich
zusammen mit der französischen Mai-Explosion vom Jahre 1968. De
Gaulle lancierte die Lösung der "participation",
die seither eifrigst von britischen Tories, von den
verschiedensten Strömungen des französischen Bürgertums, von
den meisten skandinavischen Kapitalisten (wie auch von den
meisten nördlichen Sozialdemokraten), ja sogar von einem Teil
der spanischen Großkonzerne freudig aufgegriffen wurde. Auf
deutsch frei übersetzt heißt "participation"
"Mitbestimmung". Es zeugt für die wohl bekannte
politische Unreife des westdeutschen Bürgertunis, daß eine
Formel, die anderswo als der letzte Schutzwall vor dem Verlust
der Unternehmerautorität in Betrieb, Wirtschaft und Staat
erkannt ist, in der BRD noch als eine zu bekämpfende teuflische
Gefahr exorziert wird. Denn um einen solchen Schutzwall handelt
es sich zweifelsohne. Nachdem breitere Teile der westeuropäischen
Arbeiterschaft in der Tat bewiesen haben, daß weder übertarifliche
Vorteile auf Betriebsebene, noch wachsende Integration der
Gewerkschaftsspitzen in den bürgerlichen Staatsapparat sie
davon abhalten können, periodisch in großen explosionsartigen
Kämpfen den Fortbestand der kapitalistischen Produktionsweise
objektiv in Frage zu stellen, wollen nun die spätkapitalistischen
Großkonzerne Westeuropas ihr historisches Ziel der letzten
Jahrzehnte - systematisches Abwiegeln des proletarischen
Klassenkampfes und systematisches Verschütten des
proletarischen Klassenbewußtseins - auf einem neuen Weg
erreichen: dadurch, daß den Gewerkschaften
"Mitbestimmung" an der nationalen Lenkung der
Wirtschaft und Mitverantwortung an der Wirtschaftsleitung auf
Betriebsebene verliehen wird.
Das Manöver
ist so plump, daß es keine Erfolgschancen hätte, wenn nicht
bedeutende Teile der Gewerkschaftsführung selbst in dieser
Frage solche Verwirrung in den Köpfen der Lohnabhängigen gesät
hätten, daß manchem von ihnen das Unternehmermanöver als eine
Arbeitererrungenschaft erscheint. Das Manöver ist plump, denn
genauso wie die "konzertierte Aktion", die
"Einkommenspolitik" und die "soziale
Programmierung" versucht es, die unterschiedliche
Klassenlage, in der sich Käufer und Verkäufer der Ware
Arbeitskraft in der bürgerlichen Gesellschaft befinden, zu
verschleiern. Da der Arbeiter weder über Reichtum noch über
die dem Reichtum entspringende Wirtschaftsmacht verfügt, kann
sein Lohn präzis durch Unternehmer und Regierung festgesetzt,
kann die Lohnsteuer an der Quelle sofort und total erfaßt, kann
- mit Ausnahme der Wirkung der bösen "wilden Streiks"
- auch die gesamtgesellschaftliche Lohnsumme exakt im voraus
festgelegt werden. Aber genauso wie es bisher in der Geschichte
noch keiner bürgerlichen Regierung, auch unter Androhung
schwerster Strafen - man denke an das Naziregime - gelungen ist,
Preise und Gewinne einzufrieren, so kann es keinem
"Mitbestimmungsgremium" oder
"mitbestimmenden" Verwaltungsrat gelingen, die Gesetze
der kapitalistischen Konkurrenz und der Kapitalverwertung
auszuschalten, zu verhindern, daß es zu periodischen
Wirtschaftsschwankungen kommt, zu verhindern, daß Unternehmer
durch die Konkurrenz gezwungen werden, periodisch strenge
Rationalisierungsmaßnahmen zu treffen, Entlassungen oder
Kurzarbeit einzuführen, den Arbeitsrhythmus zu steigern, die
Ausbeutung der Arbeitskraft zu verstärken usw. usf.
Mitbestimmung und Mitverantwortung, bei gleichzeitigem
Beibehalten des Privateigentums und profitorientierten
Wirtschaftsgefüges, bedeutet daher unvermeidlich Mitbestimmung
und Mitverantwortung für diese Blüten kapitalistischer
Produktionsweise.
Arbeiter
"Vertreter", die dazu bereit sind, müssen
unweigerlich mit den unmittelbaren Interessen ihrer Mandanten
zusammenstoßen, ja sich in Vertreter der
"Betriebs-"(d.h. der Kapital)-Interessen gegen die
Arbeiterschaft verwandeln. Es ist schwer, irgendwo auf diesem
Wege haltzumachen und zu sagen: bis hierhin und nicht weiter.
Haben wir nicht bei den jüngsten "wilden Streiks" der
Gewerkschaftsbewegung entstammende "Arbeitsdirektoren"
gesehen, die als echte Unternehmer-Scharfmacher versuchten, die
"aufwieglerischen Elemente" aus den Betrieben zu
entfernen, ja sogar jegliche Konzession an die Streikenden und
jegliche Verhandlung mit ihnen abzulehnen, sogar zu einem
Zeitpunkt wo die Unternehmer selbst bereits eine viel "gemäßigtere"
Sprache führten?
Eine sich nicht
nur in den bürgerlichen Staatsapparat, sondern sogar in die tägliche
Betriebsführung des Kapitalismus integrierende Gewerkschaft wäre
keine "systemkonforme" Gewerkschaft, sie würde rasch
aufhören, überhaupt noch eine wirkliche Gewerkschaft zu sein.
Die Lohnabhängigen würden keinerlei Grund mehr erkennen,
solchen Arbeitskontrolleuren und Arbeitsdirektoren noch Teile
des schwer erarbeiteten Lohnes in Form von freiwilligen Beiträgen
zuzuschanzen. Ein Trend zum Mitgliederschwund würde in großem
Stil einsetzen (man studiere z.B. die Fluktuation einiger
solcher "systemkonformer" Gewerkschaften in den USA,
wie des Bergarbeiterverbandes während der letzten Jahre!). Da
die Unternehmer keinerlei Interesse daran hätten, der
Gewerkschaftsbürokratie finanzielle Schwierigkeiten im Tausch für
die enge Zusammenarbeit zu verursachen, würde man einem System
der zwangsmäßigen Erhebungen von Gewerkschaftsbeiträgen
"an der Quelle" durch die Unternehmer selbst,
sozusagen einem System von "Lohnsteuer zweiter Hand"
zustreben, wie es für die spanischen "vertikalen
Gewerkschaften" gilt. Am Endpunkt eines solchen
Entartungsprozesses hätte die Gewerkschaftsbürokratie aufgehört,
eine Bürokratie selbständiger Arbeiterorganisationen zu sein.
Sie wäre nur noch ein. besonderer Bestandteil der
staatlichen Verwaltungsbürokratie, die für die spätkapitalistische
Gesellschaft die leider zu unberechenbaren Taten neigende und
explosionsanfällige Ware "Arbeitskraft" zu verwalten
hätte, so wie andere Teile dieser Bürokratie Züge,
Autobahnen, Briefmarken, Hochschulen und Panzer verwalten.
Glücklicherweise
sind wir noch weit davon entfernt, an diesem Schlußpunkt des
Prozesses angelangt zu sein. Nur die ersten zögernden Schritte
in Richtung auf diese Selbstverleugnung und Selbstaufhebung der
freien Gewerkschaftsbewegung wurden bisher in Westeuropa
unternommen. Und alles spricht dafür, daß die bewußteren,
radikaleren und kämpferischen Teile der westeuropäischen
Arbeiterschaft diesen Prozeß rechtzeitig umkehren werden. Diese
Umkehrung ist jedoch auf die Dauer nur möglich, wenn die
Gewerkschaftsbewegung ihre Haltung zum Problem der inneren
Gewerkschaftsdemokratie, zum Problem der neuen, aus der
spezifischen Lage des Spätkapitalismus erwachsenen Aufgaben und
zum sozialistischen Endziel der Arbeiterbewegung gründlich überholt
und neugestaltet.
Mit der
Zentralisation des Kapitals hat auch eine andauernd wachsende
Zentralisation der Gewerkschaften Schritt gehalten. Es ist dies
ein sehr widerspruchsvoller und zwiespältiger Prozeß.
Gewerkschaften sind, anders als Parteien, keine Organisationen
von Gleichgesinnten, keine Verbände die nur Werktätige
vereinigen, die auf einer bestimmen programmatischen Basis
stehen und ein bestimmtes historisches Ziel verwirklichen
wollen. Sie sind im Prinzip Vertreter der unmittelbaren
materiellen Interessen all derer, die gezwungen sind, ihre
Arbeitskraft zu verkaufen. Aber auch der Anschluß an
Gewerkschaften erfordert ein Mindestmaß an elementarem
Klassenbewußtsein, das wenigstens in den größeren Länder des
Westens bisher immer nur eine Minderheit von Lohnabhängigen
erreicht hat.
Die
Zentralisation der Gewerkschaften erlaubt es deshalb, der
zentralen wirtschaftlichen Macht des Großkapitals mehr Macht
entgegenzustellen, als isolierte Lohnabhängige einer Werkstatt,
eines Betriebes, einer Stadt oder eines Industriereviers
normalerweise vorzeigen könnten. Sie ist deshalb eine
notwendige Waffe im Klassenkampf, die vor allem den Schwächeren,
den weniger Organisierten, oder den durch eine besondere
Wirtschaftslage zu ungünstigen Ausgangsbedingungen beim
Aushandeln des Arbeitslohns Verurteilten, zugute kommt. Für
eine Aufhebung der gewerkschaftlichen Zentralisation zu agieren,
wäre letzten Endes nur zugunsten der Kapitalistenklasse.
Aber dieselbe
Zentralisation, die es den schwächeren Lohnabhängigen erlaubt,
günstigere Lohn- und Arbeitsbedingungen auszuhandeln als sie
selbst erreichen könnten, droht, sich gegen die Kämpferischen
und Radikaleren zu wenden, sobald ein gewerkschaftlicher Apparat
bürokratisch verformt und verselbständigt ist. Sie droht die
gesamte Grundlage der Gewerkschaften zu untergraben, wenn sie zu
einer systematischen Passivität der Gewerkschaftsmitglieder
entartet, weil ein immer kleinerer Kreis von Funktionären die
zentralen Entscheidungen trifft - einschließlich der
Kompromisse bei Tarifverhandlungen - ohne eine breite Schicht
von Aktivisten in den Entscheidungsprozeß einzuschalten.
Die übermäßige
Zentralisation der gewerkschaftlichen Entscheidungsgewalt ist um
so gefährlicher, als gerade die Weigerung lebendiger
Gewerkschaftsorganisationen, sich der
"Einkommenspolitik", der "sozialen
Programmierung" und der "konzertierten Aktion"
auf die Dauer zu fügen, periodisch zu scharfen, von den
Unternehmern orchestrierten Kampagnen gegen die "übermäßige
Macht der Gewerkschaften" führt (wie dies in Großbritannien
in den Jahren 1967 und 1968 der Fall war), und diese solche
Kampagnen nur dann erfolgreich überstehen können, wenn sie über
die freiwillige und begeisterte Unterstützung von Tausenden und
Abertausenden von aktiven Mitgliedern verfügen.
Es ist kein
Zufall, daß die sonst ach so stark auf "Demokratie"
eingeschworene bürgerliche öffentliche Meinung den
Gewerkschaften noch mehr Zentralisation aufdrängen möchte,
indem sie der Führung vorwirft, sie lasse der
"anarchistischen Zügellosigkeit" der Betriebskader,
etwa in Ländern wie Großbritannien und Italien, zuviel
Spielraum. Die Unternehmer möchten gerne, daß die
Gewerkschaftsapparate selbst die, von ihrem Standpunkt aus
gesehen, unumgängliche "Säuberung" der Betriebe
durchführen. Wehe der Gewerkschaft, die sich zu diesem Kurs
entschließen würde; ihre gewerkschaftliche Substanz würde
schnell schwinden.
Das einzige
Mittel, um die Auswüchse der gewerkschaftlichen Zentralisation
zu vermeiden, ist breiteste innergewerkschaftliche Demokratie.
Dies bedeutet nicht nur die Pflicht, vor jeder bedeutenden
Entscheidung die Mitgliedschaft und das Aktiv weitgehends zu
informieren, zu befragen und beschließen zu lassen, sondern
ebenfalls das Recht von Minderheiten, sich zusammenzuschließen,
um auf Gewerkschaftstagen ihre Anstrengungen wenigstens
teilweise ebensogut koordinieren zu können, wie dies der
Apparat vermag. Es ist bezeichnend, daß der gemäßigte Flügel
der Gewerkschaften dieses Recht immer selbstverständlich für
sich beansprucht, wenn er sich in einer Minderheitsposition
befindet, oder fürchtet, bald in eine solche Position verdrängt
zu werden, seinerseits aber nicht bereit ist, einer radikalen
Minderheit dasselbe Recht zuzugestehen, sobald seine Kontrolle
über die Organisation wiederum konsolidiert ist. Die
Gewerkschaften der Weimarer Republik in den zwanziger Jahren,
wie jene der CSSR in den Jahren 1968 und 1969, legen davon
beredtes Zeugnis ab.
Oft wird
solchen Gedankengängen entgegengehalten, daß die
Gewerkschaftsmitglieder selbst letzten Endes schuld sind an der
wachsenden Macht der Apparate, weil sie Versammlungen nicht
besuchen, keinerlei Aktivität an den Tag legen, und oft noch
gemäßigter sind als der Apparat. Wir wollen nicht verhehlen,
daß ein Körnchen Wahrheit in diesen Ausführungen steckt -
aber nur ein Körnchen. Denn erstens zeigen Ereignisse immer
wieder, daß gelegentlich große Arbeitermassen dem
Gewerkschaftsapparat wie im Jahre 1968 in Frankreich und im
Jahre 1969 in Italien um tausend Meilen voraneilen, anstatt ihm
nachzuhinken. Und zweitens gilt für die gewerkschaftliche
Aktivität, was für das Schwimmen gilt; man kann es nur
erlernen, wenn man irgendwann ins Wasser springt, d.h. zur
Praxis übergeht. Diejenigen, die der Arbeitermasse vorwerfen,
sie zeige zuwenig gewerkschaftliche Aktivität, sollten sich die
Frage stellen, was sie denn unternommen haben, um diese Masse
zur Seibstinitiative, zur Selbstaktivität und
Selbstentscheidung zu erziehen. Nur eine Gewerkschaftsstrategie,
die systematisch auf eine solche Erziehung in der täglichen
Kampfpraxis ausgerichtet ist, kann eine aufsteigende Linie in
der Gewerkschaftstätigkeit breiter Massen erzeugen. Eine
Gewerkschaftsstrategie, die der Masse der Mitglieder jede Möglichkeit
und jedes Gefühl, daß sie selbst Initiative im Kampf ergreifen
kann, nimmt, kann nur eine Kombination wachsender
gewerkschaftlicher Passivität und periodischer Explosionen außerhalb
des Rahmens der Gewerkschaften erzeugen.
Eine auf aktive
Initiative der Basis im Klassenkampf ausgerichtete
Gewerkschaftsstrategie ist aber auch die einzige, die den neuen
Aufgaben entspricht, die der Gewerkschaftsbewegung aus der
jetzigen Entwicklungsphase des Kapitalismus erwachsen. Wir
sagten bereits, daß sich immer mehr Arbeiterkämpfe spontan in
Richtung auf ein In-Frage-stellen der kapitalistischen
Produktionsverhältnisse bewegen. Die Strategie, die dieser
spontanen Tendenz entspricht, ist jene der
Arbeiterproduktionskontrolle. Im Gegensatz zur
"Mitbestimmung" geht die Strategie der
Arbeiterproduktionskontrolle davon aus, daß Tarifautonomie der
Gewerkschaften einerseits und Mitverantwortung für die
Profitmaximierung der Betriebe und Konzerne andererseits, daß
Verteidigung der Interessen der Lohnabhängigen einerseits und
das sich den Bewegungsgesetzen der kapitalistischen
Produktionsweise Fügen andererseits, grundlegend unvereinbar
sind. Sie fordert deshalb Kontroll- und Veto-Recht für Lohnabhängige,
nicht aber Mitverantwortung für die Verwaltung kapitalistischer
Betriebe und kapitalistischer Wirtschaft.
"Arbeiterkontrolle
im Kapitalismus; Mitbestimmung im Sozialismus" in
diese knappe Formel hat der verstorbene stellvertretende
Generalsekretär des belgischen Gewerkschaftsbundes FGTB Andre
Renard die gewerkschaftliche Doktrin in diesem Sachbereich
zusammengefaßt. Sie scheint uns völlig zuzutreffen.
Arbeiterproduktionskontrolle
erfordert aber weitgehende Initiative auf der Ebene des Konzerns
und des Betriebs, ja sogar auf der Ebene der Werkstatt und jedes
Fließbandes. Der Kampf um Arbeiterproduktionskontrolle schafft
Keimformen der Selbstorganisation aller Lohnabhängigen
am Arbeitsplatz, wie dies heute am Beispiel des größten
Betriebes Westeuropas, der Turiner FIAT-Werke, erstmalig seit
Jahrzehnten wieder der Fall ist. Einen solchen Delegierten-Körper
in die Gewerkschaftsorganisation reintegrieren und gar
gesetzlich untermauern zu wollen heißt, seine Eigenart völlig
zu verkennen. Es handelt sich vielmehr um eine Erweiterung des Tätigkeitsfeldes
der Werktätigen im Betrieb, die sich nicht mehr auf
Tarifverhandlungen beschränken und durch das Ergebnis dieser
Verhandlungen einschränken lassen wollen. Diese
Selbstorganisation der Werktätigen am Arbeitsplatz muß völlige
Autonomie bewahren, um zum Zuge zu kommen; sie ist Keimform
eines Systems von Doppelherrschaft auf Betriebsebene, die
ihrerseits nur Keimform einer Räteordnung sein kann. Darin
liegt ihre Besonderheit and ihre Aufgabe. Aber sie kann und wird
auf die Tätigkeit der Gewerkschaftsmitglieder im Betrieb rückwirken,
deren Aktivität stimulieren, und die gewerkschaftliche
Demokratie fördern, solange sie Ausdruck einer wachsenden
Anteilnahme der Masse der Lohnabhängigen an den
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen
bleibt.
In dieselbe
Richtung einer geschmeidigeren Artikulation von Zentralisierung
und innergewerkschaftlicher Demokratie drängt auch eine andere
neue Aufgabe, die den Gewerkschaften aus der Entwicklung des Spätkapitalismus
zukommt: jene der stärkeren internationalen Zusammenarbeit und
Integration. Im Zeitalter des multinationalen Konzerns ist dies
das einzige Mittel, um der raschen Auftragsverlegung von Land zu
Land, des raschen Gegeneinander-Ausspielens von Werktätigen mit
relativ geringeren gegen Werktätige mit relativ höheren Löhnen
seitens dieser internationalen Konzerne wenigstens teilweise zu
entgehen. Bisher haben die großen Gewerkschaftsapparate in der
Frage der internationalen Aktion völlig versagt. Man wartet
immer noch auf den ersten europäischen Streik, wo es bereits so
viele europäische Konzerne gibt. Und wenn die Arbeiter eines
solchen Konzerns in einem Lande streiken, oder die Streikenden
eines Industriezweiges durch rasches Herbeiführen
konkurrierender Ware aus einem Nachbarland in der Wirksamkeit
ihres Streiks schwer gestört werden, dann hat bisher die
millionenstarke "offizielle" Gewerkschaftsbewegung
weniger für internationale Solidarität erreicht als kleine
radikale Minderheitsgruppen.
Eine solche
internationale Zusammenarbeit und Integration ist jedoch
undenkbar auf der Ebene der organisatorischen Zentralisation:
hier muß gleichzeitig auf Konzern- und Betriebsebene und auf
der Ebene von Dachverbänden gehandelt werden. Und hier hat die
Gewerkschaftsbewegung die Pflicht, mit dem eigenen
erzieherischen Beispiel vorangehend zu beweisen, daß die These,
es gebe in der heutigen Welt überhaupt kein Mittel, um durch
technischen Fortschritt bedingte Zentralisierung mit wachsender
Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung aller Menschen zu verknüpfen,
nur der bürgerlichen und der bürokratischen Logik, keineswegs
aber der Wirklichkeit entspricht.
Ein
konservativer britischer Technokrat, Michael Rose, spricht
die Befürchtung aus, die Verallgemeinerung kybernetischer
Lenksysteme in Wirtschaft und Staat könne zu einer gewaltigen
Konzentration an Entscheidungsgewalt in wenigen Händen führen,
gegründet auf das Monopol des Zugangs zu der so angehäuften
Informationsmasse. Mehrere bürgerliche Nationalökonomen haben
den Gedanken geäußert, daß in spätestens fünfzehn Jahren
etwa 200 internationale Großkonzerne die Wirtschaft der
"freien Welt" beherrschen würden. Daß ihnen das
Paradox verborgen bleibt, das darin liegt, eine durch solche
Konzentration von Wirtschaftsmacht gekennzeichnete Welt noch
"frei" zu nennen, zeugt nur für die so typische
Problemblindheit dieser bürgerlichen Nationalökonomen.
Eine
"freiheitlich-demokratische Ordnung", in der tatsächlich
alle großen strategischen Entscheidungen, die das Wirtschafts-
und Gesellschaftsleben breiter Massen bestimmen, durch diese
Massen selbst getroffen werden, in der sich der Zugang zu allen
wichtigen Informations- und Wissensquellen verallgemeinert, wo
also Zentralisierung der Technik mit weitester Dezentralisierung
der Entscheidungsprozesse verbunden wird, ist nur möglich
aufgrund des Gemeineigentums an Produktionsmitteln und ihrer
Verwaltung durch demokratisch-zentralistische, d.h. geplante
Selbstverwaltung von Produzenten und Konsumenten.
Die
Gewerkschaften werden ihre aus der letzten Entwicklung des Spätkapitalismus
entsprungenen Aufgaben nur lösen können, wenn sie sich wieder
voll durch dieses sozialistische Endziel, das noch nie so
relevant war wie heute, in ihrer täglichen Praxis lenken
lassen. "Systemkonforme" Gewerkschaften kann es im Spätkapitalismus
nicht geben. "Systemkritische" Gewerkschaften aber
erfordern bewußte Sozialisten an ihrer Spitze.
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