| Die moderne
                Gewerkschaftsbewegung ist ein Produkt der ersten Phase des
                modernen Kapitalismus, der Phase der freien Konkurrenz. Die
                kapitalistische Produktionsweise schließt den Produzenten von
                jeglichem freien Zugang zu Produktions- und Lebensmitteln ab,
                zwingt ihn, seine Arbeitskraft zu verkaufen, um die Mittel zum
                unmittelbaren Lebensunterhalt zu erringen, und verwandelt somit
                diese Arbeitskraft in eine Ware. Wie jeder Warenbesitzer begibt
                sich der Besitzer der Ware "Arbeitskraft" auf den
                Markt, um diese zu verkaufen. Wie jede Ware wird auch die Ware
                "Arbeitskraft" letzten Endes zu ihrem Wert, d.h. zu
                ihrem gesellschaftlich durchschnittlichen Produktionspreis
                verkauft. Nur befindet sich der Verkäufer der Ware
                "Arbeitskraft" in einer, durch die kapitalistische
                Produktionsweise bedingten, besonderen, verglichen mit jener
                aller anderen Warenbesitzer im Kapitalismus institutionell
                unterschiedlichen Lage. Er ist gezwungen, seine Ware zum
                laufenden Marktpreis zu verkaufen, weil er diese nicht vom Markt
                zurückziehen kann, um eine günstigere Marktlage abzuwarten.
                Weigert er sich, den laufenden Marktpreis anzunehmen, so gerät
                er in Gefahr, zusammen mit seiner Familie zu verhungern. Deshalb
                wird unter normalen Bedingungen des Kapitalismus, vor allem,
                wenn die strukturelle Erwerbslosigkeit hoch ist (und die
                beginnende Industrialisierung bedingt dieses hohe Niveau, mit
                Ausnahme der bevölkerungsleeren Ansiedlungskolonien), die Ware
                "Arbeitskraft" laufend unter ihrem Wert verkauft. Die moderne
                Gewerkschaftsbewegung entsteht als Reaktion der Lohnarbeiter auf
                diesen Tatbestand. Wird die Konkurrenz zwischen den Unternehmern
                auf die Konkurrenz zwischen den Verkäufern der Ware
                "Arbeitskraft" ausgedehnt, so sind die Lohnabhängigen
                hilflos der Tendenz des Sinkens des Lohnes unter die
                Produktionskosten der Arbeitskraft ausgesetzt. Gewerkschaften
                sind demnach ein Versuch, die Atomisierung der Lohnabhängigen
                einzuschränken und die institutionelle Ungleichheit von Käufer
                und Verkäufer der Ware "Arbeitskraft" wenigstens
                dadurch einzuschränken, daß der Verkauf nicht mehr
                individuell, sondern kollektiv stattfindet. An und für
                sich sind demnach Gewerkschaften nicht systemsprengend im
                Kapitalismus. Sie sind nicht Mittel zur Aufhebung der
                kapitalistischen Ausbeutung, sondern nur Mittel zu einer für
                die Masse der Lohnabhängigen erträglicheren Ausbeutung. Sie
                sollen die Löhne erhöhen, nicht die Lohnarbeit überhaupt
                aufheben. Aber gleichzeitig sind die Gewerkschaften an und für
                sich auch nicht systemkonform im Kapitalismus. Denn indem sie
                dem Sinken der Reallöhne Einhalt gebieten und wenigstens
                periodisch und unter bestimmten Bedingungen günstige
                Fluktuation von Nachfrage und Angebot an Arbeitskraft auf dem
                Arbeitsmarkt zur Hebung des Marktpreises dieser Ware ausnützen
                können, erlauben sie der organisierten Masse der Arbeiterschaft
                ein Minimum an Konsum und Bedürfnissen zu übersteigen, so daß
                Klassenorganisation, Klassenbewußtsein und wachsendes
                Selbstvertrauen erst in breiterem Ausmaß entstehen und die
                Vorbedingungen für einen systemsprengenden Kampf breiterer
                Massen überhaupt erst erzeugen können. Um normal
                funktionieren und sich ausdehnen zu können, benötigt die
                moderne Gewerkschaftsbewegung zwei wirtschaftliche
                Vorbedingungen: erstens einen Grad der Industrialisierung oder
                des durchschnittlichen Wirtschaftswachstums, in dem tendenziell
                mehr Arbeitsplätze entstehen als gleichzeitig durch die
                Prozesse des Ruins des selbständigen Handwerks und des selbständigen
                Bauern sowie durch die Konzentration des Kapitals autgehoben
                werden. Zweitens eine Form des Funktionierens der
                kapitalistischen Produktionsweise, in der die Bestimmung der Löhne
                durch die Fluktuationen von Nachfrage und Angebot der Ware
                "Arbeitskraft", d.h. durch die Marktlage auf dem
                Arbeitsmarkt, die Lebensinteressen der mächtigsten Schichten
                der herrschenden Klasse nicht gefährdet. Historisch sind diese
                Bedingungen nur im Westen, und nur in der frühimperialistischen
                Phase des Monopolkapitalismus, etwa 1890-1914, verwirklicht
                worden. Ist die erste
                Bedingung nicht erfüllt, so bleiben die Gewerkschaften schwach
                und wirkungslos, wie dies in Großbritannien im ersten Teil des
                19. Jahrhunderts, im übrigen Westeuropa bis in die achtziger
                Jahre des 19. Jahrhunderts der Fall war, und in den Ländern der
                sogenannten "Dritten Welt" auch heute noch der Fall
                ist. Ist die zweite Bedingung nicht mehr erfüllt, so gehen die
                Großunternehmer daran, durch Ausschaltung der freien
                Gewerkschaften die nötigen Verwertungsbedingungen des Kapitals
                wiederherzustellen, wie dies in den ökonomisch schwächeren Ländern
                Europas zur Zeit der großen Wirtschaftskrise allgemein geschah. Die Tatsache,
                daß Gewerkschaften an und für sich weder systemsprengend noch
                systemfördernd sind, hat seit Ende des 19. Jahrhunderts auch in
                den ursprünglich von Sozialisten gegründeten Gewerkschaften ähnliche
                Ansichten der "Neutralität" gegenüber der
                kapitalistischen Produktionsweise aufkommen lassen, wie sie bei
                den "reinen" Gewerkvereinen etwa Großbritanniens
                schon seit jeher bestanden. Man solle sich nur auf die
                Organisation der Lohnabhängigen beschränken, durch die
                wachsende Macht dieser Organisation die schlimmsten Auswüchse
                der kapitalistischen Ausbeutung beseitigen, und den Arbeitern
                einen wachsenden Lebensstandard sichern. Diese Macht würde dann
                die bürgerliche Gesellschaft zu einer allmählichen Anpassung
                an objektive Sozialisierungsprozesse zwingen. Das übrige könne
                man dem allgemeinen Wahlrecht überlassen. Der von Bernstein
                offen ausgesprochene Revisionismus entsprach durchaus den Wünschen
                der führenden Kreise der Gewerkschaften, die auch die schärfsten
                Gegner der von Rosa Luxemburg geführten Linken in den
                Auseinandersetzungen innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung
                vor dem 1. Weltkrieg waren. Diesen Ansichten lag eine bestimmte
                historische Prognose zugrunde, nämlich jene eines graduellen
                Abbaus der Klassengegensätze innerhalb der kapitalistischen
                Produktionsweise dank der organisierten Kraft der
                Arbeiterbewegung, an erster Stelle der Gewerkschaften. Sechzig
                Jahre später haben englische und amerikanische liberale
                Nationalökonomen wie Galbraith den alten Bernstein mit
                ihrer Theorie des "countervailing-power" und
                der "gemischten Gesellschaft" wieder aufleben
                lassen. Leider hat die
                Geschichte des 20. Jahrhunderts diese Illusionen eines
                graduellen Abbaus der inneren Gegensätze der kapitalistischen
                Produktionsweise keineswegs bestätigt. Seitdem diese
                Produktionsweise ihre historische Aufgabe der Schaffung des
                Weltmarkts und der weltweiten Ausdehnung der Warenproduktion erfüllt
                hatte, zeugt eine lange Reihe von Erschütterungen von der
                wachsenden Explosivität dieser Gegensätze: zwei Weltkriege,
                die große Wirtschaftskrise der Jahre 1929 bis 1932, die
                Ausdehnung des Faschismus in ganz Europa, der Verlust eines
                Drittels der Erde für die kapitalistische Produktionsweise,
                eine ununterbrochene Kette von Kolonialkriegen in den letzten
                zwanzig Jahren, die fürchterliche Gefahr, die der Wettlauf nach
                Kernwaffen für die Zukunft der Menschheit heraufbeschwört,
                sind nur einige der wichtigsten Zeugnisse dieser explosiven
                Gegensätze. Die aus den
                Hoffnungen auf einen graduellen, ununterbrochenen Fortschritt
                geborenen Gewerkschaftstheorien erwiesen sich als unfähig, die
                neuen historischen Aufgaben, mit denen die Arbeiterbewegung in
                der Epoche des Kapitalismus konfrontiert wurde, zu erkennen,
                geschweige denn, sie zu lösen. Ein Festhalten an
                nur-gewerkschaftlicher Theorie und Praxis mußte zwangsläufig
                zum Schluß führen, daß nur ein kräftiger und gesunder
                Kapitalismus Lohnerhöhungen gewähren könne. Darum war man
                bereit, den Arzt am Krankenbett des Kapitalismus zu spielen, und
                statt zu versuchen, diesem Kranken zu seinem Ende zu verhelfen,
                beraubte man sich, den Kapitalismus mit allen Mitteln von seiner
                Krankheit zu heilen. Das Paradox endete dort, wo man Lohnkürzungen
                akzeptierte, um einen "gesunden" Kapitalismus zu
                erzeugen, d.h., um spätere Lohnerhöhungen zu erreichen. Eine
                Gewerkschaftsbewegung, die zu solch absurden Schlußfolgerungen
                gelangte, war offenbar in eine Sackgasse geraten. Jede
                Institution unterliegt in einer auf verallgemeinerter
                Warenproduktion und Arbeitsteilung aufgebauten Gesellschaft der
                Gefahr der Verdinglichung und der Verselbständigung, d.h. der
                Gefahr, die ursprüngliche Funktion zu verlieren und nur noch
                der eigenen Selbsterhaltung zu dienen. Diese Gefahr wird
                besonders stark, wenn in dieser Institution eine
                gesellschaftliche Schicht entsteht, deren materielles Interesse
                engstens mit der Selbsterhaltung der betreffenden Institution
                verbunden ist. Der Prozeß der Verbürokratisierung der
                Gewerkschaften, der engstens mit dem Hinabgleiten der
                Klassenkampftheorie zur Theorie und Praxis der
                Klassenzusammenarbeit verbunden ist, erklärt so mindestens z.T.
                jenes Paradox, das aber auch eigenständige ideologische Wurzeln
                hat, d.h. den inneren Widersprüchen der "reinen"
                Gewerkschaftstheorie entspricht. Fing somit die Ideologie der
                Gewerkschaftsbürokratie an, einen Funktionswandel der
                Gewerkschaften zu bestimmen, so wurden allmählich im Zeitalter
                des Spätkapitalismus immer stärkere objektive Prozesse
                sichtbar, die in dieselbe Richtung drängten. Der Spätkapitalismus
                steht seit den vierziger Jahren im Zeichen der dritten
                industriellen Revolution, d.h. im Zeichen einer beschleunigten
                technologischen Erneuerung. Diese beschleunigte technologische
                Erneuerung bedingt eine Verkürzung des Reproduktionszyklus des
                fixen Kapitals, der einen wachsenden Zwang in Richtung auf
                langfristige Investitionsplanung, genaue Kostenplanung, und
                deshalb auch genaue Lohnkostenplanung beinhaltet. Dadurch
                schrumpft das klassische Tätigkeitsfeld der Gewerkschaften
                automatisch. Idealmodell für den "organisierten" Spätkapitalismus
                ist eine verallgemeinerte Wirtschafts- und Sozialprogrammation,
                die es den Großkonzernen erlaubt, ihre Investitionsprogramme
                miteinander zu koordinieren, die unter der Herrschaft des
                Privateigentums an Produktionsmitteln im Wirtschaftsbereich rein
                Indikativ bleiben muß, die aber im Sozialbereich
                durchaus imperativ wirken soll. Deshalb überall der
                Druck zugunsten der "konzertierten Aktion", der
                "Einkommenspolitik", der "sozialen
                Programmierung". Hinter all diesen Formeln versteckt sich
                ein einheitlicher Zweck: Abbau der Tarifautonomie der
                Gewerkschaften, Verhinderung der Ausnützung von zeitweilig günstigen
                Konjunkturlagen auf dem Arbeitsmarkt (Vollbeschäftigung oder
                gar akute Knappheit an Arbeitskräften) durch die Arbeiterschaft
                im Sinne von bedeutenden Lohnerhöhungen und (unter Bedingung
                einer bestimmten Geldpolitik) im Sinne einer bedeutenden Senkung
                der Mehrwert- und Profitrate. Gleichzeitig
                aber verleiht dieser grundlegende Trend des Spätkapitalismus in
                der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Gewerkschaftsbürokratie
                neue Perspektiven. Es handelt sich jetzt nicht nur darum, die
                Organisationsmacht am Verhandlungstisch gegenüber den
                Unternehmervertretern zu verwerten. Es handelt sich nun auch
                darum, in den zahlreichen Gremien der staatlichen und
                halbstaatlichen Wirtschaftslenkung die Lohnabhängigen zu
                vertreten. In den skandinavischen Ländern, in Belgien und
                Holland, in Frankreich und Italien und seit einigen Jahren auch
                in Großbritannien hat sich so ein Prozeß der breitesten
                Integration der Gewerkschaftsspitzen in den bürgerlichen Staat
                abgezeichnet, wobei Gewerkschaftsführer oft mehr Zeit in diesen
                staatlichen Gremien als in eigentlichen
                Gewerkschaftsversammlungen verbringen. Ideologisch
                gesehen entspricht diese weitere Integration der Gewerkschaftsbürokratie
                in den spätbürgerlichen Staatsapparat derselben Motivation der
                Klassenzusammenarbeit und derselben gradualistisdien Illusionen,
                wie die vorige Welle der Integrationen. Weil der "soziale
                Fortschritt" durch das "wirtschaftliche Wachstum"
                bestimmt sei, müsse man halt die Verantwortung für dieses
                wirtschaftliche Wachstum auf sich nehmen, ohne sich Gedanken zu
                machen über die Struktur der bestehenden Produktionsweise, die
                durch dieses Wachstum konsolidierten Klassengegensätze und die
                Klassenausbeutung usw. usf. Weil die Posten in den Verwaltungsräten
                der verstaatlichten Industrien und Konzerne, weil die Posten im
                Verwaltungsrat der Zentralbanken, weil die unzähligen Posten in
                staatlichen Programmierungs- und Planungsgremien als so viele
                "Positionen" gesehen werden, von denen aus man die bürgerliche
                Wirtschaft "Schritt für Schritt" erobern könne, wird
                die "Mitbestimmung und Mitverantwortung" in der spätkapitalistischen
                Wirtschaft als eine Etappe zur zukünftigen Sozialisierung bei
                manchen nicht völlig dem Zynismus verfallenen Gewerkschaftsführern
                rationalisiert. Der Urtyp dieses Verhaltens wurde vom alten
                französischen Gewerkschaftsführer Jouhaux geliefert,
                der nach dem ersten Weltkrieg freudestrahlend das Dekret, das
                ihn zum Mitglied des Verwaltungsrats der Banque de France ernannte,
                den Gewerkschaftlern vorlegte und ausrief: "Der erste Nagel
                im Sarg des Kapitalismus". Der französische Kapitalismus
                scheint aber seit fünfzig Jahren diese Nägel sehr gut überstanden
                zu haben und ist heute genauso lebendig wie im Jahre 1919... Die Tendenz zur
                wachsenden Integration der Gewerkschaftsspitzen in den bürgerlichen
                Staatsapparat stößt jedoch auf zwei grundlegende Widersprüche
                im Spätkapitalismus: Einmal benötigen
                die Großkonzerne und bürgerlichen Regierungen diese Teilnahme
                der Gewerkschaftsbürokratie an der Wirtschafts- und
                Sozialprogrammierung nur in dem Maße, wie dadurch ein
                Aufbegehren der Arbeiterschaft gegen die weiterhin zyklische
                Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise (einmal
                Vollbeschäftigung mit "Maßhalten" in der
                Lohnpolitik; daraufhin Rezession mit Erwerbslosigkeit und
                massierte Angriffe der Unternehmer gegen den erreichten
                Lebensstandard und die gegebenen Arbeitsbedingungen der Lohnabhängigen)
                erfolgreich abgebaut werden kann. Aber eine wachsende
                Identifizierung der Gewerkschaftsführung mit der
                "staatlich gelenkten" Lohnpolitik (wie etwa in Holland
                und Skandinavien während langer Jahre) oder mit einer
                "freiwilligen" Einkommenspolitik (Großbritannien) muß
                zwangsläufig auf wachsenden Widerstand der Lohnabhängigen stoßen,
                auf eine Welle von wilden Streiks, auf eine Aushöhlung der
                inneren Beziehungen zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und
                Gewerkschaften. Dies aber verringert die Nützlichkeit der
                Gewerkschaftsbürokratie in den Augen der Großkonzerne. Jene
                bedürfen nämlich einer die Arbeitermassen tatsächlich
                kontrollierende und ihre Kämpfe kanalisierende, nicht aber eine
                nur nominelle Gewerkschaftsbürokratie, wie das Beispiel der
                sog. "vertikalen" Staatsgewerkschaft in Spanien
                eindeutig bewiesen hat. Ist die Gewerkschaftsbürokratie zu
                einer solchen Kontrolle nicht mehr fähig, so wird ihre
                "Desintegration" aus dem bürgerlichen Staatsapparat
                die wahrscheinlichere Variante, sei es daß die Großkonzerne
                selbst die Initiative dazu nehmen, sei es, daß die
                Gewerkschaftsführung eine "Wende nach links"
                vornimmt, um die Kontrolle über die Arbeiteragitation wieder zu
                erlangen. Andererseits
                hat aber auch die Tendenz zur wachsenden
                Wirtschaftsprogrammierung und zum "organisierten"
                Kapitalismus, die die Integration der Gewerkschaftsbürokratie
                in den bürgerlichen Staatsapparat bedingt, eine doppelte und
                widerspruchsvolle Auswirkung auf die Masse der Lohnabhängigen.
                Diese sind ohne Zweifel in größerem Maß als vorher der
                mystifizierenden Demagogie der "Betriebsinteressen"
                und der vom Bürgertum vorgeheuchelten und nur von
                Gewerkschaftsseite praktizierten Klassenzusammenarbeit
                ausgesetzt. Aber gleichzeitig bedingt die wachsende öffentliche
                Debatte über gesamtgesellschaftliche Aggregate wie
                Bruttosozialprodukt, Volkseinkommen, Lohnquote,
                Investitionsquote, Geldvolumen, Produktivitätssteigerung usw.
                usf. die wachsende Möglichkeit eines Interesses
                fortgeschrittener Arbeiter und Angestellter für
                gesamtwirtschaftliche und gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge.
                Genauso wie die Wirtschaft vor dem ersten Weltkrieg mit ihrem
                andauernden Guerillakampf über die Verteilung des von der
                Arbeiterschaft neu geschaffenen Wertes zwischen Unternehmern und
                Lohnabhängigen zu einer praktischen Schule des Klassenkampfes
                wurde, sobald der Arbeiterschaft die inneren Zusammenhänge
                dieses Kampfes verdeutlicht wurden, genauso können die heutigen
                öffentlichen Auseinandersetzungen über Verteilung des
                Volkseinkommens und Umfang, Inhalt und Orientierung der
                Investitionen zu einer praktischen höheren Schule des
                Klassenkampfes werden, wenn die Lohnabhängigen wiederum in
                breitem Außmaß über die inneren Zusammenhänge dieser
                Prozesse mit den der kapitalistischen Produktionsweise
                innewohnenden Widersprüchen und über deren
                Ausbeutungscharakter aufgeklärt werden, und wenn die
                Vermittlung dieser Aufklärung über die unmittelbaren Bedürfnisse
                und Sorgen der Lohnabhängigen gefunden wird. Gewiß ist
                dieses objektive Ergebnis der wachsenden Verquickung von Großkonzernen,
                bürgerlichem Staat und staatlicher Wirtschafts- und
                Sozialpolitik keineswegs ein automatisches Produkt des
                "organisierten" Spätkapitalismus. Eine
                demokratisch-neoreformistische Strömung, die sich seit den sog.
                "Plan-Experimenten" etwa eines Hendrik De Mars in
                den dreißiger Jahren in der Gewerkschaftsbewegung verbreitet
                hat, versucht den Übergang des Kampfes für Reformen in der
                Distributionssphäre zu Kämpfen für Strukturreformen als einen
                großen Fortschritt an und für sich darzustellen. Die Erfahrung
                beweist aber immer wieder, daß zwischen neokapitalistischen,
                das System - sehr oft auf Kosten der Lohnquote! -
                rationalisierenden und leicht von den Großkonzernen zu
                absorbierenden Strukturreformen und solchen, die systemsprengend
                wirken, weil sie in die kapitalistische Produktionsweise nicht
                integriert werden können und letzten Endes dazu führen, daß
                der Klassenkampf einer Entscheidungsschlacht zustrebt, schärfstens
                unterschieden werden muß. Die ersten führen in ihrer Logik zu
                einer weiteren Integration der Gewerkschaftsbürokratie in den bürgerlichen
                Staatsapparat, zu einem weiteren Abbau von Kampfwiilen und
                Kampferfahrung der Lohnabhängigen. Der Kampf um die zweiten
                kann dagegen nur die Gewerkschaftsbewegung radikalisieren und
                die Masse für weitere und breitere Kämpfe und wachsendes
                antikapitalistisches Bewußtsein mobil machen. Die Möglichkeit,
                von den neuen Formen des Funktionierens der kapitalistischen
                Produktionsweise selbst auszugehen, um die Gewerkschaftsbewegung
                und breitere Arbeitermassen auf radikale antikapitalistische
                Ziele umzuorientieren, entspricht einer spontanen Tendenz des
                elementaren Arbeiterkampfes auf Betriebsebene, wie er sowohl in
                dem französisdien Generalstreik vom Mai 1968 und in den großen
                italienischen Streiks im Herbst und Winter 1969, wie ansatzweise
                in den zahlreichen wilden Streiks vieler westeuropäischer Länder
                der letzten zwölf Monate zum Ausdruck kam. Was in diesen größten
                Streiks, die es bisher in der Geschichte des Kapitalismus
                gegeben hat (nahezu 10 Millionen Streikende in Frankreich,
                nahezu 15 Millionen in Italien) zum erstenmal schlagartig
                ausgesprochen wurde, das war eine Herausforderung und eine
                "Kontestation" nicht nur der kapitalistischen
                Einkommensverteilung, sondern der kapitalistischen
                Produktionsverhältnisse selbst. Wie bedeutend auch Lohn- und
                Arbeitszeitfragen für diese Streikbewegung waren, so bestand
                das Neue an diesen riesigen Arbeitskämpfen in Westeuropa darin,
                daß die Streikenden, sehr oft spontan, ohne tiefere
                theoretische Einsicht und mit unbeholfenen Formulierungen als
                Kampfziele nicht nur mehr Lohn und kürzere Arbeitszeit
                forderten, sondern die neuen Formen der Entlohnung
                (Arbeitsplatzbewertung, measured day work usw.) die zur
                Atomisierung der Arbeiterklasse und zur rationalisierten
                Kontrolle über die Arbeitskraft im Betrieb führen, in Frage
                stellten, die Spanne zwischen den am schlechtesten und den am
                besten bezahlten Schichten der Lohnabhängigen versuchten
                herabzusetzen, die Arbeitsorganisation im Betrieb angriffen, den
                Rhythmus des Fließbandes selbst versuchten zu bestimmen, ja
                sogar die innerbetriebliche Arbeitsteilung erschütterten und
                die Autorität der Meister und Vorarbeiter, d.h. die ganze
                hierarchische Struktur des kapitalistischen Betriebes, anfingen
                zu untergraben. Man kann alle diese neuartigen Forderungen nicht
                besser zusammenfassen als in ihnen die Keimform des
                unmittelbaren Kampfes gegen das Recht und die Macht des
                Kapitals, Arbeit und Maschinen zu kommandieren, d.h. die
                Keimform des unmittelbaren Kampfes gegen die kapitalistischen
                Produktionsverhältnisse selbst zu erkennen. Gewiß wäre es
                verfrüht, die französischen und italienischen Streiks, d.h.
                das Klassenbewußtsein von 25 Millionen westeuropäischer
                Lohnabhängiger sämtlich auf diesen Nenner zu bringen. Noch
                verfehlter wäre es, in jedem "wilden Streik" jedes
                westeuropäischen Landes bereits den Ansatz zu einem französischen
                Mai oder einem italienischen Herbst, d. h. den Ansatz zu einer
                solchen wenigstens in Keimform direkten In-Frage-stellung der
                kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu sehen. Noch nie war
                das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung und der inneren
                Differenzierung der Arbeiterschaft so stark in Westeuropa
                erkennbar wie heute. Aber es handelt sich darum, das Neue in
                diesen Kämpfen rechtzeitig aufzudecken und zu erkennen, daß es
                die Tendenz haben wird, sich allmählich auf alle
                imperialistischen Länder des Westens, sowie auf Japan,
                auszudehnen. Denn diese
                neuartige Form der Arbeiterkämpfe in den industrialisierten Ländern
                ist selbst ein Produkt der dritten industriellen Revolution, der
                sich verändernden Formen der kapitalistischen Produktionsweise.
                Beschleunigte technologische Erneuerung bedeutet im
                "organisierten" Spätkapitalismus beschleunigte
                Strukturkrisen von Gewerben, Industriezweigen und
                Industrierevieren, beschleunigte Disqualifizierung ganzer
                Berufsgruppen, beschleunigte Ausbeutung und vor allem ständige
                Intensivierung des Arbeitsprozesses, aber gleichzeitig
                beschleunigtes Wiedereinschleusen geistiger Arbeit in den
                Produktionsprozeß, beschleunigte Hebung des durchschnittlichen
                Qualifikation- und Wissensniveaus der Produzenten in den
                technisch führenden Industriezweigen, beschleunigtes
                Um-Sich-Greifen der Kontestation der bürgerlichen Herrschafts-
                und Entfremdungserscheinungen im Bereich der Hoch- und
                Mittelschule, des Kommunikationswesens, der Lebensgemeinschaft
                und der Konsumsphäre überhaupt, was unvermeidlich zu einer
                wachsenden Kontestation derselben Herrschafts- und
                Entfremdungsbedingungen in der Produktionssphäre führen muß. Die
                intelligenteren Schichten der Großkonzerne und der bürgerlichen
                Klasse sind sich der großen Gefahr, die diese neuen Kampfformen
                und Kampfziele der Arbeiterschaft für das Überleben ihrer
                Klassenherrschaft mit sich bringen, durchaus bewußt, — leider
                viel mehr bewußt als die meisten Gewerkschaftsführer. Darum fällt
                eine ideologische Kehrtwende dieses Großbürgertums zeitlich
                zusammen mit der französischen Mai-Explosion vom Jahre 1968. De
                Gaulle lancierte die Lösung der "participation",
                die seither eifrigst von britischen Tories, von den
                verschiedensten Strömungen des französischen Bürgertums, von
                den meisten skandinavischen Kapitalisten (wie auch von den
                meisten nördlichen Sozialdemokraten), ja sogar von einem Teil
                der spanischen Großkonzerne freudig aufgegriffen wurde. Auf
                deutsch frei übersetzt heißt "participation"
                "Mitbestimmung". Es zeugt für die wohl bekannte
                politische Unreife des westdeutschen Bürgertunis, daß eine
                Formel, die anderswo als der letzte Schutzwall vor dem Verlust
                der Unternehmerautorität in Betrieb, Wirtschaft und Staat
                erkannt ist, in der BRD noch als eine zu bekämpfende teuflische
                Gefahr exorziert wird. Denn um einen solchen Schutzwall handelt
                es sich zweifelsohne. Nachdem breitere Teile der westeuropäischen
                Arbeiterschaft in der Tat bewiesen haben, daß weder übertarifliche
                Vorteile auf Betriebsebene, noch wachsende Integration der
                Gewerkschaftsspitzen in den bürgerlichen Staatsapparat sie
                davon abhalten können, periodisch in großen explosionsartigen
                Kämpfen den Fortbestand der kapitalistischen Produktionsweise
                objektiv in Frage zu stellen, wollen nun die spätkapitalistischen
                Großkonzerne Westeuropas ihr historisches Ziel der letzten
                Jahrzehnte - systematisches Abwiegeln des proletarischen
                Klassenkampfes und systematisches Verschütten des
                proletarischen Klassenbewußtseins - auf einem neuen Weg
                erreichen: dadurch, daß den Gewerkschaften
                "Mitbestimmung" an der nationalen Lenkung der
                Wirtschaft und Mitverantwortung an der Wirtschaftsleitung auf
                Betriebsebene verliehen wird. Das Manöver
                ist so plump, daß es keine Erfolgschancen hätte, wenn nicht
                bedeutende Teile der Gewerkschaftsführung selbst in dieser
                Frage solche Verwirrung in den Köpfen der Lohnabhängigen gesät
                hätten, daß manchem von ihnen das Unternehmermanöver als eine
                Arbeitererrungenschaft erscheint. Das Manöver ist plump, denn
                genauso wie die "konzertierte Aktion", die
                "Einkommenspolitik" und die "soziale
                Programmierung" versucht es, die unterschiedliche
                Klassenlage, in der sich Käufer und Verkäufer der Ware
                Arbeitskraft in der bürgerlichen Gesellschaft befinden, zu
                verschleiern. Da der Arbeiter weder über Reichtum noch über
                die dem Reichtum entspringende Wirtschaftsmacht verfügt, kann
                sein Lohn präzis durch Unternehmer und Regierung festgesetzt,
                kann die Lohnsteuer an der Quelle sofort und total erfaßt, kann
                - mit Ausnahme der Wirkung der bösen "wilden Streiks"
                - auch die gesamtgesellschaftliche Lohnsumme exakt im voraus
                festgelegt werden. Aber genauso wie es bisher in der Geschichte
                noch keiner bürgerlichen Regierung, auch unter Androhung
                schwerster Strafen - man denke an das Naziregime - gelungen ist,
                Preise und Gewinne einzufrieren, so kann es keinem
                "Mitbestimmungsgremium" oder
                "mitbestimmenden" Verwaltungsrat gelingen, die Gesetze
                der kapitalistischen Konkurrenz und der Kapitalverwertung
                auszuschalten, zu verhindern, daß es zu periodischen
                Wirtschaftsschwankungen kommt, zu verhindern, daß Unternehmer
                durch die Konkurrenz gezwungen werden, periodisch strenge
                Rationalisierungsmaßnahmen zu treffen, Entlassungen oder
                Kurzarbeit einzuführen, den Arbeitsrhythmus zu steigern, die
                Ausbeutung der Arbeitskraft zu verstärken usw. usf.
                Mitbestimmung und Mitverantwortung, bei gleichzeitigem
                Beibehalten des Privateigentums und profitorientierten
                Wirtschaftsgefüges, bedeutet daher unvermeidlich Mitbestimmung
                und Mitverantwortung für diese Blüten kapitalistischer
                Produktionsweise. Arbeiter
                "Vertreter", die dazu bereit sind, müssen
                unweigerlich mit den unmittelbaren Interessen ihrer Mandanten
                zusammenstoßen, ja sich in Vertreter der
                "Betriebs-"(d.h. der Kapital)-Interessen gegen die
                Arbeiterschaft verwandeln. Es ist schwer, irgendwo auf diesem
                Wege haltzumachen und zu sagen: bis hierhin und nicht weiter.
                Haben wir nicht bei den jüngsten "wilden Streiks" der
                Gewerkschaftsbewegung entstammende "Arbeitsdirektoren"
                gesehen, die als echte Unternehmer-Scharfmacher versuchten, die
                "aufwieglerischen Elemente" aus den Betrieben zu
                entfernen, ja sogar jegliche Konzession an die Streikenden und
                jegliche Verhandlung mit ihnen abzulehnen, sogar zu einem
                Zeitpunkt wo die Unternehmer selbst bereits eine viel "gemäßigtere"
                Sprache führten? Eine sich nicht
                nur in den bürgerlichen Staatsapparat, sondern sogar in die tägliche
                Betriebsführung des Kapitalismus integrierende Gewerkschaft wäre
                keine "systemkonforme" Gewerkschaft, sie würde rasch
                aufhören, überhaupt noch eine wirkliche Gewerkschaft zu sein.
                Die Lohnabhängigen würden keinerlei Grund mehr erkennen,
                solchen Arbeitskontrolleuren und Arbeitsdirektoren noch Teile
                des schwer erarbeiteten Lohnes in Form von freiwilligen Beiträgen
                zuzuschanzen. Ein Trend zum Mitgliederschwund würde in großem
                Stil einsetzen (man studiere z.B. die Fluktuation einiger
                solcher "systemkonformer" Gewerkschaften in den USA,
                wie des Bergarbeiterverbandes während der letzten Jahre!). Da
                die Unternehmer keinerlei Interesse daran hätten, der
                Gewerkschaftsbürokratie finanzielle Schwierigkeiten im Tausch für
                die enge Zusammenarbeit zu verursachen, würde man einem System
                der zwangsmäßigen Erhebungen von Gewerkschaftsbeiträgen
                "an der Quelle" durch die Unternehmer selbst,
                sozusagen einem System von "Lohnsteuer zweiter Hand"
                zustreben, wie es für die spanischen "vertikalen
                Gewerkschaften" gilt. Am Endpunkt eines solchen
                Entartungsprozesses hätte die Gewerkschaftsbürokratie aufgehört,
                eine Bürokratie selbständiger Arbeiterorganisationen zu sein.
                Sie wäre nur noch ein. besonderer Bestandteil der
                staatlichen Verwaltungsbürokratie, die für die spätkapitalistische
                Gesellschaft die leider zu unberechenbaren Taten neigende und
                explosionsanfällige Ware "Arbeitskraft" zu verwalten
                hätte, so wie andere Teile dieser Bürokratie Züge,
                Autobahnen, Briefmarken, Hochschulen und Panzer verwalten. Glücklicherweise
                sind wir noch weit davon entfernt, an diesem Schlußpunkt des
                Prozesses angelangt zu sein. Nur die ersten zögernden Schritte
                in Richtung auf diese Selbstverleugnung und Selbstaufhebung der
                freien Gewerkschaftsbewegung wurden bisher in Westeuropa
                unternommen. Und alles spricht dafür, daß die bewußteren,
                radikaleren und kämpferischen Teile der westeuropäischen
                Arbeiterschaft diesen Prozeß rechtzeitig umkehren werden. Diese
                Umkehrung ist jedoch auf die Dauer nur möglich, wenn die
                Gewerkschaftsbewegung ihre Haltung zum Problem der inneren
                Gewerkschaftsdemokratie, zum Problem der neuen, aus der
                spezifischen Lage des Spätkapitalismus erwachsenen Aufgaben und
                zum sozialistischen Endziel der Arbeiterbewegung gründlich überholt
                und neugestaltet. Mit der
                Zentralisation des Kapitals hat auch eine andauernd wachsende
                Zentralisation der Gewerkschaften Schritt gehalten. Es ist dies
                ein sehr widerspruchsvoller und zwiespältiger Prozeß.
                Gewerkschaften sind, anders als Parteien, keine Organisationen
                von Gleichgesinnten, keine Verbände die nur Werktätige
                vereinigen, die auf einer bestimmen programmatischen Basis
                stehen und ein bestimmtes historisches Ziel verwirklichen
                wollen. Sie sind im Prinzip Vertreter der unmittelbaren
                materiellen Interessen all derer, die gezwungen sind, ihre
                Arbeitskraft zu verkaufen. Aber auch der Anschluß an
                Gewerkschaften erfordert ein Mindestmaß an elementarem
                Klassenbewußtsein, das wenigstens in den größeren Länder des
                Westens bisher immer nur eine Minderheit von Lohnabhängigen
                erreicht hat. Die
                Zentralisation der Gewerkschaften erlaubt es deshalb, der
                zentralen wirtschaftlichen Macht des Großkapitals mehr Macht
                entgegenzustellen, als isolierte Lohnabhängige einer Werkstatt,
                eines Betriebes, einer Stadt oder eines Industriereviers
                normalerweise vorzeigen könnten. Sie ist deshalb eine
                notwendige Waffe im Klassenkampf, die vor allem den Schwächeren,
                den weniger Organisierten, oder den durch eine besondere
                Wirtschaftslage zu ungünstigen Ausgangsbedingungen beim
                Aushandeln des Arbeitslohns Verurteilten, zugute kommt. Für
                eine Aufhebung der gewerkschaftlichen Zentralisation zu agieren,
                wäre letzten Endes nur zugunsten der Kapitalistenklasse. Aber dieselbe
                Zentralisation, die es den schwächeren Lohnabhängigen erlaubt,
                günstigere Lohn- und Arbeitsbedingungen auszuhandeln als sie
                selbst erreichen könnten, droht, sich gegen die Kämpferischen
                und Radikaleren zu wenden, sobald ein gewerkschaftlicher Apparat
                bürokratisch verformt und verselbständigt ist. Sie droht die
                gesamte Grundlage der Gewerkschaften zu untergraben, wenn sie zu
                einer systematischen Passivität der Gewerkschaftsmitglieder
                entartet, weil ein immer kleinerer Kreis von Funktionären die
                zentralen Entscheidungen trifft - einschließlich der
                Kompromisse bei Tarifverhandlungen - ohne eine breite Schicht
                von Aktivisten in den Entscheidungsprozeß einzuschalten. Die übermäßige
                Zentralisation der gewerkschaftlichen Entscheidungsgewalt ist um
                so gefährlicher, als gerade die Weigerung lebendiger
                Gewerkschaftsorganisationen, sich der
                "Einkommenspolitik", der "sozialen
                Programmierung" und der "konzertierten Aktion"
                auf die Dauer zu fügen, periodisch zu scharfen, von den
                Unternehmern orchestrierten Kampagnen gegen die "übermäßige
                Macht der Gewerkschaften" führt (wie dies in Großbritannien
                in den Jahren 1967 und 1968 der Fall war), und diese solche
                Kampagnen nur dann erfolgreich überstehen können, wenn sie über
                die freiwillige und begeisterte Unterstützung von Tausenden und
                Abertausenden von aktiven Mitgliedern verfügen. Es ist kein
                Zufall, daß die sonst ach so stark auf "Demokratie"
                eingeschworene bürgerliche öffentliche Meinung den
                Gewerkschaften noch mehr Zentralisation aufdrängen möchte,
                indem sie der Führung vorwirft, sie lasse der
                "anarchistischen Zügellosigkeit" der Betriebskader,
                etwa in Ländern wie Großbritannien und Italien, zuviel
                Spielraum. Die Unternehmer möchten gerne, daß die
                Gewerkschaftsapparate selbst die, von ihrem Standpunkt aus
                gesehen, unumgängliche "Säuberung" der Betriebe
                durchführen. Wehe der Gewerkschaft, die sich zu diesem Kurs
                entschließen würde; ihre gewerkschaftliche Substanz würde
                schnell schwinden. Das einzige
                Mittel, um die Auswüchse der gewerkschaftlichen Zentralisation
                zu vermeiden, ist breiteste innergewerkschaftliche Demokratie.
                Dies bedeutet nicht nur die Pflicht, vor jeder bedeutenden
                Entscheidung die Mitgliedschaft und das Aktiv weitgehends zu
                informieren, zu befragen und beschließen zu lassen, sondern
                ebenfalls das Recht von Minderheiten, sich zusammenzuschließen,
                um auf Gewerkschaftstagen ihre Anstrengungen wenigstens
                teilweise ebensogut koordinieren zu können, wie dies der
                Apparat vermag. Es ist bezeichnend, daß der gemäßigte Flügel
                der Gewerkschaften dieses Recht immer selbstverständlich für
                sich beansprucht, wenn er sich in einer Minderheitsposition
                befindet, oder fürchtet, bald in eine solche Position verdrängt
                zu werden, seinerseits aber nicht bereit ist, einer radikalen
                Minderheit dasselbe Recht zuzugestehen, sobald seine Kontrolle
                über die Organisation wiederum konsolidiert ist. Die
                Gewerkschaften der Weimarer Republik in den zwanziger Jahren,
                wie jene der CSSR in den Jahren 1968 und 1969, legen davon
                beredtes Zeugnis ab. Oft wird
                solchen Gedankengängen entgegengehalten, daß die
                Gewerkschaftsmitglieder selbst letzten Endes schuld sind an der
                wachsenden Macht der Apparate, weil sie Versammlungen nicht
                besuchen, keinerlei Aktivität an den Tag legen, und oft noch
                gemäßigter sind als der Apparat. Wir wollen nicht verhehlen,
                daß ein Körnchen Wahrheit in diesen Ausführungen steckt -
                aber nur ein Körnchen. Denn erstens zeigen Ereignisse immer
                wieder, daß gelegentlich große Arbeitermassen dem
                Gewerkschaftsapparat wie im Jahre 1968 in Frankreich und im
                Jahre 1969 in Italien um tausend Meilen voraneilen, anstatt ihm
                nachzuhinken. Und zweitens gilt für die gewerkschaftliche
                Aktivität, was für das Schwimmen gilt; man kann es nur
                erlernen, wenn man irgendwann ins Wasser springt, d.h. zur
                Praxis übergeht. Diejenigen, die der Arbeitermasse vorwerfen,
                sie zeige zuwenig gewerkschaftliche Aktivität, sollten sich die
                Frage stellen, was sie denn unternommen haben, um diese Masse
                zur Seibstinitiative, zur Selbstaktivität und
                Selbstentscheidung zu erziehen. Nur eine Gewerkschaftsstrategie,
                die systematisch auf eine solche Erziehung in der täglichen
                Kampfpraxis ausgerichtet ist, kann eine aufsteigende Linie in
                der Gewerkschaftstätigkeit breiter Massen erzeugen. Eine
                Gewerkschaftsstrategie, die der Masse der Mitglieder jede Möglichkeit
                und jedes Gefühl, daß sie selbst Initiative im Kampf ergreifen
                kann, nimmt, kann nur eine Kombination wachsender
                gewerkschaftlicher Passivität und periodischer Explosionen außerhalb
                des Rahmens der Gewerkschaften erzeugen. Eine auf aktive
                Initiative der Basis im Klassenkampf ausgerichtete
                Gewerkschaftsstrategie ist aber auch die einzige, die den neuen
                Aufgaben entspricht, die der Gewerkschaftsbewegung aus der
                jetzigen Entwicklungsphase des Kapitalismus erwachsen. Wir
                sagten bereits, daß sich immer mehr Arbeiterkämpfe spontan in
                Richtung auf ein In-Frage-stellen der kapitalistischen
                Produktionsverhältnisse bewegen. Die Strategie, die dieser
                spontanen Tendenz entspricht, ist jene der
                Arbeiterproduktionskontrolle. Im Gegensatz zur
                "Mitbestimmung" geht die Strategie der
                Arbeiterproduktionskontrolle davon aus, daß Tarifautonomie der
                Gewerkschaften einerseits und Mitverantwortung für die
                Profitmaximierung der Betriebe und Konzerne andererseits, daß
                Verteidigung der Interessen der Lohnabhängigen einerseits und
                das sich den Bewegungsgesetzen der kapitalistischen
                Produktionsweise Fügen andererseits, grundlegend unvereinbar
                sind. Sie fordert deshalb Kontroll- und Veto-Recht für Lohnabhängige,
                nicht aber Mitverantwortung für die Verwaltung kapitalistischer
                Betriebe und kapitalistischer Wirtschaft. "Arbeiterkontrolle
                im Kapitalismus; Mitbestimmung im Sozialismus" in
                diese knappe Formel hat der verstorbene stellvertretende
                Generalsekretär des belgischen Gewerkschaftsbundes FGTB Andre
                Renard die gewerkschaftliche Doktrin in diesem Sachbereich
                zusammengefaßt. Sie scheint uns völlig zuzutreffen. Arbeiterproduktionskontrolle
                erfordert aber weitgehende Initiative auf der Ebene des Konzerns
                und des Betriebs, ja sogar auf der Ebene der Werkstatt und jedes
                Fließbandes. Der Kampf um Arbeiterproduktionskontrolle schafft
                Keimformen der Selbstorganisation aller Lohnabhängigen
                am Arbeitsplatz, wie dies heute am Beispiel des größten
                Betriebes Westeuropas, der Turiner FIAT-Werke, erstmalig seit
                Jahrzehnten wieder der Fall ist. Einen solchen Delegierten-Körper
                in die Gewerkschaftsorganisation reintegrieren und gar
                gesetzlich untermauern zu wollen heißt, seine Eigenart völlig
                zu verkennen. Es handelt sich vielmehr um eine Erweiterung des Tätigkeitsfeldes
                der Werktätigen im Betrieb, die sich nicht mehr auf
                Tarifverhandlungen beschränken und durch das Ergebnis dieser
                Verhandlungen einschränken lassen wollen. Diese
                Selbstorganisation der Werktätigen am Arbeitsplatz muß völlige
                Autonomie bewahren, um zum Zuge zu kommen; sie ist Keimform
                eines Systems von Doppelherrschaft auf Betriebsebene, die
                ihrerseits nur Keimform einer Räteordnung sein kann. Darin
                liegt ihre Besonderheit and ihre Aufgabe. Aber sie kann und wird
                auf die Tätigkeit der Gewerkschaftsmitglieder im Betrieb rückwirken,
                deren Aktivität stimulieren, und die gewerkschaftliche
                Demokratie fördern, solange sie Ausdruck einer wachsenden
                Anteilnahme der Masse der Lohnabhängigen an den
                wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen
                bleibt. In dieselbe
                Richtung einer geschmeidigeren Artikulation von Zentralisierung
                und innergewerkschaftlicher Demokratie drängt auch eine andere
                neue Aufgabe, die den Gewerkschaften aus der Entwicklung des Spätkapitalismus
                zukommt: jene der stärkeren internationalen Zusammenarbeit und
                Integration. Im Zeitalter des multinationalen Konzerns ist dies
                das einzige Mittel, um der raschen Auftragsverlegung von Land zu
                Land, des raschen Gegeneinander-Ausspielens von Werktätigen mit
                relativ geringeren gegen Werktätige mit relativ höheren Löhnen
                seitens dieser internationalen Konzerne wenigstens teilweise zu
                entgehen. Bisher haben die großen Gewerkschaftsapparate in der
                Frage der internationalen Aktion völlig versagt. Man wartet
                immer noch auf den ersten europäischen Streik, wo es bereits so
                viele europäische Konzerne gibt. Und wenn die Arbeiter eines
                solchen Konzerns in einem Lande streiken, oder die Streikenden
                eines Industriezweiges durch rasches Herbeiführen
                konkurrierender Ware aus einem Nachbarland in der Wirksamkeit
                ihres Streiks schwer gestört werden, dann hat bisher die
                millionenstarke "offizielle" Gewerkschaftsbewegung
                weniger für internationale Solidarität erreicht als kleine
                radikale Minderheitsgruppen. Eine solche
                internationale Zusammenarbeit und Integration ist jedoch
                undenkbar auf der Ebene der organisatorischen Zentralisation:
                hier muß gleichzeitig auf Konzern- und Betriebsebene und auf
                der Ebene von Dachverbänden gehandelt werden. Und hier hat die
                Gewerkschaftsbewegung die Pflicht, mit dem eigenen
                erzieherischen Beispiel vorangehend zu beweisen, daß die These,
                es gebe in der heutigen Welt überhaupt kein Mittel, um durch
                technischen Fortschritt bedingte Zentralisierung mit wachsender
                Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung aller Menschen zu verknüpfen,
                nur der bürgerlichen und der bürokratischen Logik, keineswegs
                aber der Wirklichkeit entspricht. Ein
                konservativer britischer Technokrat, Michael Rose, spricht
                die Befürchtung aus, die Verallgemeinerung kybernetischer
                Lenksysteme in Wirtschaft und Staat könne zu einer gewaltigen
                Konzentration an Entscheidungsgewalt in wenigen Händen führen,
                gegründet auf das Monopol des Zugangs zu der so angehäuften
                Informationsmasse. Mehrere bürgerliche Nationalökonomen haben
                den Gedanken geäußert, daß in spätestens fünfzehn Jahren
                etwa 200 internationale Großkonzerne die Wirtschaft der
                "freien Welt" beherrschen würden. Daß ihnen das
                Paradox verborgen bleibt, das darin liegt, eine durch solche
                Konzentration von Wirtschaftsmacht gekennzeichnete Welt noch
                "frei" zu nennen, zeugt nur für die so typische
                Problemblindheit dieser bürgerlichen Nationalökonomen. Eine
                "freiheitlich-demokratische Ordnung", in der tatsächlich
                alle großen strategischen Entscheidungen, die das Wirtschafts-
                und Gesellschaftsleben breiter Massen bestimmen, durch diese
                Massen selbst getroffen werden, in der sich der Zugang zu allen
                wichtigen Informations- und Wissensquellen verallgemeinert, wo
                also Zentralisierung der Technik mit weitester Dezentralisierung
                der Entscheidungsprozesse verbunden wird, ist nur möglich
                aufgrund des Gemeineigentums an Produktionsmitteln und ihrer
                Verwaltung durch demokratisch-zentralistische, d.h. geplante
                Selbstverwaltung von Produzenten und Konsumenten. Die
                Gewerkschaften werden ihre aus der letzten Entwicklung des Spätkapitalismus
                entsprungenen Aufgaben nur lösen können, wenn sie sich wieder
                voll durch dieses sozialistische Endziel, das noch nie so
                relevant war wie heute, in ihrer täglichen Praxis lenken
                lassen. "Systemkonforme" Gewerkschaften kann es im Spätkapitalismus
                nicht geben. "Systemkritische" Gewerkschaften aber
                erfordern bewußte Sozialisten an ihrer Spitze.
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