Seit 1973 befindet sich die
kapitalistische Weltwirtschaft in einer langen Depression, die
das, was man im Englischen "soft landing" nennt, in
absehbarer Zeit ausschließt. Innerhalb der langen Depression,
der langen Wellen, wie das in meinem Jargon heißt, gibt es den
normalen Konjunkturzyklus, also die Auf- und Abbewegungen der
Produktion und des Profits. Aber, und das ist das Kennzeichen
dieser langen Welle, es kommt beim Konjunkturaufschwung nicht zu
einem Abbau der Erwerbslosigkeit. Diese steigt ununterbrochen,
nicht nur in der Dritten Welt, wo sie horrende Formen angenommen
hat, nicht nur in den nachstalinistischen Gesellschaften im
Ostblock und der ehemaligen UdSSR. Sie steigt auch im Westen.
Um es auf einen einfachen Punkt
zu bringen: Die offiziellen Zahlen sind gefälscht. viele der
tatsächlichen Erwerbslosen - Frauen, Jugendliche und
nichtqualifizierte männliche Arbeiter - kommen in der Statistik
nicht vor, weil, wie es in der zynischen Sprache der bürgerlichen
ÖkonomInnen so schön heißt, diese Leute vom Arbeitsmarkt
verschwunden sind, sie davon ausgeschlossen wurden. Die
Hauptursache dieser Massenerwerbslosigkeit ist einfach zu erklären,
beinahe schon eine arithmethische Frage. Die dritte
technologische Revolution mit der Halbautomatisierung,
Miniaturisierung und der Steigerung der materiellen Produktivkräfte
wirkt weiter. Ein Beispiel aus Belgien: Einer der klassischen
belgischen Industriezweige war die Papierherstellung und alles,
was damit zusammenhing. Heute gibt es in Belgien eine einzige
Papierherstellungsmaschine, die täglich mehr Papier produziert,
als in ganz Belgien und Holland verkauft werden kann. Dies nur
als Beispiel, ich könnte eine ganze Reihe von anderen
Beispielen anführen, die in dieselbe Richtung gehen.
Welches ist die empirische Bestätigung
der langen Wellen - liegt sie allein in der
Massenerwerbslosigkeit? An und für sich ist das nicht
unwesentlich, aber die Ursache liegt nicht allein darin. Sie hat
ihre Ursache vor allem in der Reprivatisierung des Geldes, oder,
wie es die landläufige Formel umschreibt, in der wachsenden
Globalisierung der Weltwirtschaft, der wachsenden
Internationalisierung des Kapitals, welche letzten Endes durch
die immer stärker her vortretende Steigerung der Produktivkräfte
begründet ist.
Die Spekulation auf den
Devisenmärkten in der Welt wird von den Großbanken und von
einem nicht unbedeutenden Teil der Großindustrie, d.h. vom Kern
der kapitalistischen Klasse, getragen.
An diesem Tatbestand läßt
sich wenig ändern. Das hat etwas zu tun mit der Globalisierung
der Weltwirtschaft, aber auch mit der technologischen Revolution
im Geldhandel (das ist nicht genau der richtige Ausdruck dafür,
aber das ist hier nicht das Thema). Durch die Anwendung der
elektronischen Verfahren auf den Devisenmärkten kann man in
Sekunden Milliarden von Dollar von einem Land ins andere, von
einem Kontinent in den anderen transferieren. Und dieser Prozeß
entzieht sich jeglicher Kontrolle, auch derjenigen der
Nationalbanken. Eine der Folgen dieses riesigen Wachstums der
Bankenaktivität ist, daß das durchschnittliche Niveau der
Qualifizierung der Bankangestellten katastrophal gesunken ist.
Es gibt Großbanken, welche die Verwaltung von Milliarden von
Dollar in die Hände von einzelnen jungen Bankangestellten (ich
habe nichts gegen junge Bankangestellte) legen, die ohne
jegliche Erfahrung sind. Sie verwalten von einem Tag auf den
anderen Milliarden von Dollar und haben sich dabei
offensichtlich mehrere Male ihre und die Finger ihrer Bank
verbrannt. Das gilt für die Schweiz genauso wie für die USA,
Großbritannien und et was abgeschwächter auch für Frankreich
und Belgien, wo die Bankenkontrolle paradoxerweise dank der größeren
Verstaatlichung der Banken seriöser ist und es zu weniger
Skandalen kommt.
Es gibt Versuche, im Namen der
Rentabilität sogenannte kostensparende Eingriffe etwa bei den
Unterrichtsausgaben oder den Ausgaben für die soziale
Sicherheit durchzuführen. Diese Logik ist brutal und zynisch.
Je länger die Depression dauert und die Erwerbslosigkeit
steigt, um so geschwächter ist die organisierte
Arbeiterlnnenbewegung bzw. -klasse.
Ich meine das im weitesten Sinn
des Wortes, nach der Definition wie sie Plechanow und Lenin im
ersten Programm der russischen Sozialdemokratie formuliert
haben. Die Lohnarbeiterlnnnenklasse besteht aus denjenigen, die
unter dem ökonomischen Zwang stehen, ihre Arbeitskraft zu
verkaufen. Es sind also nicht nur Industriearbeiter und vor
allem nicht nur männliche Industriearbeiter. Dazu gehören auch
die Lohnabhängigen im öffentlichen Dienst, im
Dienstleistungssektor, in allen Bereichen.
Hinter dieser Offensive des
Kapitals, einer neokonservativen Offensive im Weltmaßstab,
liegt eine für das Kapital selbst gefährliche, ich wurde
beinahe sagen schwachsinnige Illusion: daß die Folgen des
Sozialstaatabbaus keine negative Auswirkung auf die bürgerliche
Klasse selbst hätte. Das ist grob gesagt Unsinn. Es gibt dafür
einen historischen Präzedenzfall. Der Anfang der modernen, öffentlichen
Hygiene (so simple Sachen wie die Kanalisation) lag in der
Tatsache begründet, daß in der Mitte des 19. Jahrhunderts
armutsbedingte Seuchen, ich denke in erster Linie an die
Cholera, auch in den reichen vierteln der kapitalistischen Großstädte
ausbrachen. Das Bürgertum fing an, sich darum zu sorgen, nicht
aus sozialem Gewissen, das war nur die nachträgliche
Rationalisierung, sondern aus Angst. Und heute ist das Großbürgertum
im Weltmaßstab, einschließlich der reichsten Länder des
Westens, mit einer ähnlichen Problematik konfrontiert, ohne
sich darüber jedoch Rechenschaft abzulegen. Armutsbedingte
Seuchen wie Tuberkolose und Cholera greifen unvermeidlich von
der Dritten Welt in die reichsten Länder des Westens über, und
die Illusion, daß die reichen Viertel davon verschont werden,
ist Irrsinn. Wie im 19. Jahrhundert wird es schon wegen des
Selbsterhaltungstriebs zu einer Reaktion kommen, mit Verspätung,
aber mit verheerenden Folgen für die gesamte Bevölkerung der
reicheren westlichen Länder.
Was die neokonservative
Ideologie kennzeichnet, ist eine wiederum beinahe schwachsinnige
Unterschätzung der Gefahren, welche die ganze Weltbevölkerung
bedrohen. Die vier Reiter der Apokalypse sind bereits unterwegs,
und wir spüren ihren Atem bereits im Nacken. Kernenergie, Krieg
und Hunger in der Dritten Welt werden politische Folgen haben,
welche die Demokratie bedrohen werden.
Dazu ein fürchterliches
Beispiel. Jedes Jahr sterben in der Dritten Welt 26 Millionen
Kinder aus Hunger und aufgrund von leicht heilbaren Seuchen. Das
ist die schreckliche Realität des Weltkapitalismus heute. Wer
das nicht sieht, wer davon die Augen verschließt und glaubt,
das sei unvermeidlich und normal, ist ein Mensch, der nicht mit
den Füßen in der Wirklichkeit steht. Es gibt ein altes berühmtes
Wort von Rosa Luxenburg: Die Menschheit hat die Wahl:
Sozialismus oder Barbarei. Heute können wir mit voller
Verantwortung und aus Kenntnis der Weltwirklichkeit mehr
Realismus als die Neokonservativen an den Tag legen und sagen,
die Menschheit hat die Wahl: Sozialismus oder physische
Vernichtung. Nicht nur die der Menschheit, sondern
wahrscheinlich jeglichen Lebens auf dieser Erde. Zu dieser These
folgendes Beispiel: Jedermann kennt die Folgen des Atomkriegs.
Woran man nicht oder kaum denkt, ist die Tatsache, daß sich die
heutigen Atomkraftwerke mit der sogenannten friedlichen Nutzung
der Kernenergie, durch den Gebrauch von klassischen Waffen nicht
nur zu einem, sondern zu Hunderten von Hiroshimas entwickeln könnten.
Wenn man diese Atomkraftwerke mit klassischen Waffen beschießt,
werden sie zu Atombomben mit all den verheerenden,
menschenvernichtenden Folgen. Und wir haben er lebt, daß sich
diese Folgen keineswegs auf die in unmittelbarer Nachbarschaft
lebende Bevölkerung beschränken. Nach dem Reaktorunfall in
Tschernobyl war nicht nur die Ukraine verstrahlt, betroffen
waren auch Lappland und weit östlich und westlich der Ukraine
liegende Länder.
Der Kampf für die Abschaffung
der Atomkraftwerke ist ein realistisches Ziel, viel
realistischer als all die beschränkten Maßnahmen, die von
internationalen Instanzen vorgeschlagen werden. Wenn dieser
Unfug nicht verschwindet, droht die Menschheit zu verschwinden.
Die Masse der Lohnabhängigen,
so wie ich sie vorher geschildert habe, reagiert, und sie
reagiert viel stärker, als man das noch vor fünf Jahren
geglaubt hat. Der Umfang dieser Reaktion kann sehr breit sein.
Er wird von einer bewußtseinsmäßigen Frechheit, auf französisch
sagt man "insolence", getragen, die alles übersteigt,
was aus der Vergangenheit bekannt ist.
Als der Oberste Gerichtshof der
Vereinigten Staaten über ein beinahe totales Abtreibungsverbot
abstimmte, sind eine Million amerikanische Frauen auf die Straße
gegangen und haben gesagt: Wir scheren uns einen Dreck um die
Gerichte, wir bestimmen unser Schicksal selbst. Als vor einigen
Wochen das italienische Parlament unter dem ziemlich in
kompetenten neuen Premierminister Berlusconi einen Angriff auf
die Altersrenten und einige andere Sozialeinrichtungen verkündete,
sind drei Millionen italienische Lohnabhängige auf die Straße
gegangen und haben ebenfalls gesagt: Wir scheren uns einen
Dreck, was dieses Parlament, was dieser Premierminister,
beschließen wir bestimmen unser Schicksal selbst. Es fehlt also
nicht an Massenreaktion, in einem Land mehr, in einem anderen
weniger.
Ein drittes Beispiel, worauf
ich besonders stolz bin, weil da die GenossInnen meiner Kapelle
doch eine entscheiden de Rolle gespielt haben: Als der ehemalige
brasilianische Staatspräsident, eine total korrupte Figur, sich
an die Macht klammerte, sind über eine Million Menschen, geführt
durch die PT (die Arbeiterlnnenpartei), auf die Straße gegangen
und haben gefordert, dieses korrupte Schwein muß weg, und sie
erreichten seinen Rücktritt. Es ist also nicht das Problem, daß
es keine Massenreaktionen gibt, aber diese Massenreaktionen
spielen sich in einem weltweiten Klima der tiefen Glaubwürdigkeitskrise
des Sozialismus ab. In den Augen der Mehrheit der Lohnabhängigen,
männlicher und weiblicher, haben der Stalinismus und der
Nachstalinismus total versagt, ebenso die Sozialdemokratie. Für
sie gibt es keine glaubwürdige Alternative links von diesen
zwei traditionellen Strömungen der Arbeiterinnenbewegung und
-klasse. Wir, ich meine damit sämtliche Kräfte links vom
Neostalinismus und der Sozialdemokratie, werden nicht als eine
auf absehbare Zeit relevante, fähige Alternative angesehen. Man
sympathisiert mit uns, findet uns ehrliche Leute, wir sind keine
korrupten SchwindlerInnen, aber man traut uns nicht zu, daß wir
uns im Rahmen der von uns befürworteten demokratischen
Verfassung durchsetzen werden. Unser Sozialismusprojekt muß von
der Selbstverwaltung getragen wer den, das heißt von der
aktiven Beteiligung der großen Mehrheit der Bevölkerung - das
kann nicht geschehen, wenn man nicht daran glaubt. Das führt zu
einem grundlegenden Widerspruch. Die großen Massenbewegungen,
die ich aufgezählt habe, sind fragmentiert und
diskontinuierlich und können deshalb in unmittelbarer Zukunft
noch von der bestehenden Ordnung, in erster Linie von den
staatstragenden Parteien inklusive der Sozialdemokratie und den
neosozialdemokratischen Eurokomunistlunen, rekuperiert werden.
Dieses Problem kann man nicht theoretisch, sondern nur in der
Praxis lösen. Es muß etwas Ähnliches (ich sage das jetzt ganz
verkürzt, historische Analogien sind nie richtig, immer
hypothetisch) geschehen wie die Russische, Deutsche oder
Spanische Revolution, welche die Menschen durch ihren Inhalt und
ihre praktische Wirkung überzeugt. Wann das geschehen wird, weiß
kein Mensch, vielleicht wird es zehn Jahre dauern, vielleicht
zwanzig, vielleicht dreißig. Aber eines kann ich mit großer
Selbstsicherheit sagen: Was noch vor fünf Jahren als
unvermeidlich erschien, der weltweite Triumph des
Neokonservativismus, das wird in den kommen- den Jahren als völlig
illusorisch erscheinen. Die Welt wird in fünf Jahren ganz
anders aussehen als heute. Ich möchte zwei Gründe für diesen
vorsichtigen Optimismus angeben. Den einen Grund hat der große
englische Revolutionär Shelley in einem kurzen Satz
zusammengefaßt: we are many, they are few. Wir haben die Macht
der großen Zahlen hinter uns. Ich möchte das mit einer Zahl,
die Sie wahrscheinlich er schrecken wird, bestätigen: Im Weltmaßstab
ist die Klasse der Lohnabhängigen auf mindestens eine Milliarde
Menschen gestiegen, und sie steigt ununterbrochen.
Ich möchte zwei Zahlen nennen:
In Indien gibt es über 100 Millionen Lohnarbeiterlnnnen, ohne
das, was man im Marxschen Sinne als Halbproletariat bezeichnet,
mitzurechnen, das heißt die armen Bauern und Bäuerinnen, die
einem Teil des Jahres gezwungen sind, als Lohnarbeiterlnnen zu
arbeiten, weil sie sonst nicht genug zu essen haben. In China
gibt es über 300 Millionen Lohnarbeiterlnnen, das
Halbproletariat aus den Dörfern nicht mitgezählt. Sie können
je den Tag in nichtmarxistischen, seriösen Tageszeitungen
lesen, daß durch eine Reihe von Wirtschaftsprozessen, die ich
jetzt hier nicht im einzelnen beschreiben will, Dutzende
Millionen armer Bauern und Bäuerinnen in die Städte wandern,
um zu versuchen, sich als Arbeitskraft zu verdingen, weil sie
auf dem Dorf verhungern, und daß die Regierung eine riesige
Angst vor den politischen Folgen dieser Massenflucht hat. Das
ist eine der großen historischen Voraussagen von Karl Marx, die
Wirklichkeit geworden ist, und die ihn nicht zu einem
Kapitalismuskritiker des 19. Jahrhunderts macht, sondern zu
einem genialen Propheten des 21. Jahrhunderts.
Zu der Zeit, als Marx diese
These aufstellte, widersetzten sich die Lohnarbeiterinnen gegen
die unmittelbaren Folgen der kapitalistischen Ausbeutung und
Unterdrückung. Meist endeten diese Kämpfe mit Niederlagen.
Aber eines lernten die lohnabhängigen Klassen aus diesen
Niederlagen: die Notwendigkeit, sich zu organisieren. Als Marx
das schrieb, gab es in der ganzen Welt wahrscheinlich nicht mehr
als hundert - oder hundertfünfzigtausend organisierte Lohnabhängige.
Heute gibt es kein Land, keine Insel, keine auch so abgelegene
Gesellschaft, wo es nicht eine organisierte
Lohnarbeiterlnnenschaft gibt. Dieser Trend wird sich verstärken.
Es gibt einen zweiten Grund für
meinen vorsichtigen Optimismus. Diesen Grund möchte ich mit
einer Anekdote umschreiben - die Geschichte der drei Frösche:
Drei Frösche sind in ein Milchfaß gefallen. Der erste Frosch,
der neokonservative Frosch, sagte: "Wir sind ja sowieso
verloren, das ist nichts anderes als die Erbsünde, Frösche
sind schlecht, bleiben schlecht, sind zum Untergang
verurteilt". Er blieb untätig und ertrank. Der zweite,
sozialdemokratische Frosch, ohne Zweifel etwas sympathischer als
der erste, meinte: "Och, das ist alles halb so wild, wir
werden schon eine Lösung finden, es wird schon noch". Er
tat nichts und ertrank ebenfalls. Der dritte Frosch, sagen wir
mal der sozialistische, kommunistische Frosch, man kann ihn
nennen wie man will, (nicht nur auf meine Kapelle bezogen),
sagte: "Was haben wir denn zu verlieren, wir sehen, die
beiden an deren Frösche sind ertrunken, laßt uns so viel
zappeln wie wir können, es kann doch nur besser sein, als
nichts zu tun." Und er zappelte wie wild, und siehe da, die
Milch ward zu Butter, der linke Frosch konnte herausspringen und
ward gerettet. Das ist ein Plädoyer für Aktion, für Aktivität,
für Tätigkeit, für Widerstand, für Rebellion, für das, was
wir mit der Formel Solidarität umschreiben - Kooperation in
weltweitem Ausmaß, ohne Differenzierung, ohne Segregation, ohne
Zersplitterung, ohne die Unterordnung eines Teils der
Ausgebeuteten und Unterdrückten unter irgendein höheres Ziel -
es gibt kein höheres Ziel als die Emanzipation, im weitesten
Sinne des Wortes.
Und hier kommt eine nicht zu
unterschätzende Gefahr auf uns zu: Worauf spekuliert das Großkapital?
Es spekuliert darauf, daß die Ideologie der Zersplitterung, der
Individualisierung, der Entsolidarisierung auf die Klasse der
Lohnabhängigen selbst übergreift. Wir müssen uns klar sein,
daß es sich um einen realen und selbstmörderischen Trend
handelt und daß dieser verheerende Folgen haben kann, wenn es
zu einer neuen, höheren Welle der Wirtschaftsdepression und der
Erwerbslosigkeit kommt. Schon Albert Einstein, kein Marxist, ein
religiöser Sozialist und ein kluger Mann, hat in den 30er
Jahren die lapidare Formel aufgestellt: Man kann den Faschismus
nicht bekämpfen, wenn man nicht die Erwerbslosigkeit radikal
ausschaltet. Das ist heute genauso wahr wie damals. Und die große
Gefahr ist, daß, wenn es an statt des heutigen Umfangs der
Erwerbslosigkeit zu zwei- oder dreimal mehr Erwerbslosen kommt,
bei der nächsten Welle der Depression, der Rezession im Rahmen
dieser Depression, daß dann die Gefährdung der politischen
Demokratie, die Gefährdung der Menschenrechte auf die
Tagesordnung gesetzt wird. Dann verbreitet sich Rassenhaß,
Judenhaß, Haß gegen die Schwarzen, die AsiatInnen,
engstirniger Nationalismus weltweit in absolut irrationaler
Weise. In Japan, wo es praktisch nie Juden oder Jüdinnen
gegeben hat, wird das klassische Fälschungsprodukt, die
Protokolle der Weisen von Zion, das Hitler in einem großen Maße
animiert und inspiriert hat, massenweise verbreitet und findet
Anklang.
Eine Umfrage hat erwiesen, daß
35 Prozent der japanischen Bevölkerung, welche nie einen Juden
oder eine Jüdin gesehen haben, glauben, daß es eine
Weltverschwörung des internationalen Judentums gibt, wogegen
man sich wider setzen muß. In der ehemaligen Sowjetunion,
heilte das Land mit dem größten Antisemitismus, gibt es
Irrsinnige, man kann sie ja nicht anders nennen, die mit
Hitler-Bildern auf ihren T-Shirts herumspazieren und behaupten,
Hitler hat nur einen Fehler begangen, er hat zuwenig Juden
umgebracht, sie würden es das nächste Mal besser tun. Und das
in einem Land, wo die Nazis mindestens 30 Millionen Menschen
umgebracht haben. Das ist völliger Irrsinn, aber man kann von
diesen Leuten nicht rationale Argumente erwarten, man kann sie
nur in der Praxis besiegen, und das bedeutet, wie bereits
gesagt, die Erwerbslosigkeit mit einer sofortigen radikalen Verkürzung
der Arbeitszeit auf maximal 30 Arbeitsstunden pro Woche zu bekämpfen.
Das ist die einzige Möglichkeit, diese fürchterliche Gefahr,
die da auf uns zukommt, im Weltmaßstab zu besiegen.
Hier muß man eines
unterstreichen. Es gibt keine beschränkte Solidarität, das ist
unmöglich. Wenn der Wille zur Solidarisierung und zur
Kooperation bei einem entscheidenden Teil der Lohnabhängigen
verschwindet, dann fängt es mit dem engstirnigen Nationalismus,
Land gegen Land, an. Ein klassisches Beispiel sind die USA. Die
Lohnabhängigen in der Automobilindustrie sagen: Die Japaner
sind schuld an unserer wirtschaftlichen Krise. Zusammen mit den
Unternehmern setzen sie sich für eine protektionistische
Politik gegen den Import von japanischen Autos ein. Das ist ökonomisch
total sinnlos.
Aber so fängt es an: Nach Land
gegen Land wird es zu Provinz gegen Provinz, Stadt gegen Stadt,
Stadtteil gegen Stadtteil kommen, so weit ist es schon in einer
ganzen Reihe von Ländern. Solidarität kommt entweder generell
unbeschränkt und im Weltmaßstab, ohne jegliche Form der
Diskrimination zum Tragen, oder sie wirkt nicht und ist
irrelevant. Davon können wir ausgehen, und ich hege einen
milden, gemäßigten Optimismus. Die größten Erzieher zur
grenzenlosen Solidarität sind ja die Multis selbst. Die Multis
kommen heute und sagen mit drohendem Zeigefinger:
"Wenn man uns keine Zugeständnisse
macht, dann verlagern wir den Arbeitsplatz nach einem
Billiglohnland." Das können sie machen, es gibt immer Länder
mit niedrigerem Lohn. Die einzige mögliche und realistische
Antwort auf diese Strategie ist eine weltweite Solidarität und
Kooperation aller Lohnabhängiger untereinander. Das ist nicht
leicht durchzusetzen, da mache ich mir keine Illusion, das kann
Jahre dauern. Ich habe einmal das Wort geprägt, es mag ein bißchen
seltsam klingen: Heute ist die größte Waffe in den Händen von
kämpferischen Gewerkschaftlerlnnen das Adreßbuch, oder etwas
moderner: das Fax-Gerät. Und dann der einfache Entschluß,
sobald irgendeine Verlagerung von Arbeitsplätzen in einem
Betrieb stattfindet, die Kolleginnen und Kollegen aller
Betriebe, die in diesem Arbeitszweig arbeiten, auf der ganzen
Welt zu informieren und zu fragen: Was machen wir dagegen?
Anfangs werden sie nicht viel machen, dann mehr und mehr, und
dann werden sie dafür sorgen, daß gemeinsam weltweit gehandelt
wird. Das wird Wirklichkeit werden. Wie lange es dauern wird,
weiß ich nicht, aber der Zeitpunkt wird kommen.
Natürlich ist es nicht
einfach. Menschen agieren nicht für etwas, woran sie nicht
glauben. Ich betone nochmals: Die weltweite Glaubwürdigkeitskrise
des Sozialismus hat ohne Zweifel zu Tendenzen der
Differenzierung und Entpolitisierung innerhalb der
Lohnarbeiterlnnenschaft geführt. Zudem gibt es verschiedene
Niveaus des Arbeitsplatzschutzes. Es gibt die im großen und
ganzen noch immer voll geschützten Lohnabhängigen, es gibt die
nur teilweise geschützten, entqualifizierten, und es gibt die
überhaupt nicht mehr geschützten.
Als trauriges und symbolisches
Beispiel möchte ich die Situation im Pariser Faubourg
Saint-Antoine anführen, wo fünf Revolutionen angefangen haben.
Dort gibt es einen Platz, wo jeden Morgen illegale
ImmigrantInnen, welche von den UnternehmerInnen nach Gutdünken
erpreßt werden können, herumstehen und sich zu Hungerlöhnen
verdingen. Die Löhne sind noch immer etwas höher als die
Hungerlöhne die sie in ihrer Heimat erhalten. Die
Unternehmerlnnen können mit ihnen anfangen, was sie wollen, sie
erpressen und sie benutzen, um den Durchschnittslohn zu drücken,
was sie selbstredend auch tun. Aber jetzt möchte ich die
Gegenseite der Medaille zeigen. Gleichzeitig hat diese wachsende
Spaltung der Lohnabhängigenklasse zu einem von der
Unternehmerschaft gänzlich unerwarteten Ergebnis geführt. Die
entqualifizierten Lohnarbeiterlnnen sind zu einem aktiven,
selbstbewußten Widerstand unfähig, aber gleichzeitig findet
ein wachsendes Selbstbewußtsein unter den hochqualifizierten
Lohnabhängigen statt. Es gibt ein geflügeltes Wort, das am
ersten Kongreß der polnischen Solidarnosc von einem Genossen
(der jetzt Mitglied der 4. Internationalen geworden ist) geprägt
wurde: "die da oben, korrupt und inkompentent". Das
"korrupt" ist nichts Neues, aber das
"inkompetent", das ist eine riesige Änderung in der
Mentalität eines Teils der Arbeiterlnnenklasse. Ich habe
Arbeiterschulungskurse und Gewerkschaftsschulungskurse durchgeführt,
in den letzten zwanzig, fünfundzwanzig Jahren wahrscheinlich
vor mehr als 100 000 Gewerkschafterlnnen gesprochen. Die
allgemeine Reaktion der ArbeiterInnen und Gewerkschafterlnnen,
die an diesen Kursen teilnahmen, war: Naja, was du da sagst, ist
alles sehr schön, wir können froh sein, wenn sich das in die
Tat um setzt, aber wie können wir denn ohne Techniker,
Ingenieure, Fabrikdirektore auskommen, dazu haben wir die Fähigkeit
doch gar nicht. Das hat sich jetzt geändert, und es heißt: Wir
können es besser als die Ingenieure, die können es nur
theoretisch, wir haben die tägliche Praxis im Betrieb. Sie
werden ihnen auf die Schulter klopfen, ohne Gewalt, die ist gar
nicht notwendig, und sagen: Geht weg, ihr seid unnötig, wir
brauchen euch nicht, wir können es besser als ihr.
Das ist eine große Änderung
in der Mentalität. Ich gebe gerne zu, es handelt sich nur um
einen Bruchteil der LohnarbeiterInnen, aber immerhin. Wir haben
hier eine praktische Anwendung von dem, was ich in meinem
Referat hervorheben will, nämlich daß der Begriff
Lohnarbeiterln, die Klasse der Lohnabhängigen, ein
gesamtgesellschaftlicher Begriff ist. Wenn man ihn auf männliche
Arbeiter in der klassischen Großindustrie beschränkt, dann
geht diese Zahl zurück, nicht in allen Ländern, sie verlagert
sich, geht aber im Weltmaßstab zurück. Das ist aber eine
falsche Definition, nicht allein aus theoretischen, sondern aus
praktischen Erwägungen. Ein Beispiel: Bergarbeiter,
Stahlarbeiter oder Arbeiter in der Maschinenbauindustrie konnten
auch in der besten Zeit die kapitalistische Wirtschaft nicht völlig
lahm legen. Das haben sie nie gemacht und nie gekonnt. Aber
Bankangestellte können das mit viel größerer Wirksamkeit.
ArbeiterInnen des Telekommunikationssektors können heute mit
viel größerer Wirksamkeit die kapitalistische Wirtschaft
komplett lahmlegen. Nirgends kann eine kapitalistische
Wirtschaft ohne Banken funktionieren, das ist unmöglich. Nach
einer Woche würde die Wirtschaft zusammen brechen. Ich stelle
fest, daß in mehreren Ländern in der Welt, ich könnte mehrere
aufzählen, inklusive Belgien, bei den Bankangestellten der Grad
des Selbstbewußtseins und des Willens zur Durchsetzung ihrer
potentiellen gesellschaftlichen Macht steigt. Das sind keine
rosigen Aussichten für die bürgerliche Klasse, und sie macht
sich darüber zu Recht große Sorgen.
Die Schlußfolgerung lautet
also: Widerstand, Rebellion, unbegrenzte Solidarität. Die
unbegrenzte Überzeugung, daß letzten Endes die lohnabhängigen
Menschen, die 99 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, ihr
Schicksal selbst in die Hände nehmen und bestimmen können.
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